Oper: Sei beim Abschied leis’ nervös
Leichter Abschied: Nach 45 Jahren beenden die Berliner Philharmoniker ihre Salzburger Osterfestspiele mit Bizets „Carmen“.
Den Milchrahmstrudel vom Café Niemetz werden sie vermissen. Die Atmosphäre im „Triangel“ und beim „Tomaselli“ auch. Überhaupt die gute österreichische Küche! Und die Natur! Und die kurzen Wege zum Festspielhaus! Einigen werden sogar die Spätvorstellungen im Programmkino am Platzl fehlen.
Für die Berliner Philharmoniker ist Salzburg voller Stammplätze und Lieblingsorte. Seit 45 Jahren kommt das Orchester jedes Jahr zu Ostern drei Wochen lang in die Mozartstadt. Da entstehen emotionale Bindungen. Zumal diese Arbeitsaufenthalte ja immer auch ein wenig nach Urlaub schmeckten. „Sobald die Ferien beginnen, holen alle ihre Familien nach“, berichtet Oboist Andreas Wittmann. „Meine Kinder haben hier Skifahren gelernt.“ 2012 ist er zum 27. Mal bei den Osterfestspielen dabei.
Anders als bei ihren normalen Tourneen gehen die Berliner in Salzburg nicht ins Hotel. Sondern quartieren sich privat ein. Wittmanns wohnen seit vielen Jahren ganz zentral am Waagplatz, in der Winterwohnung eines Ehepaars, das auf einem der umliegenden Berge lebt und nur in die Stadt zieht, wenn zu viel Schnee liegt. Sein Kollege Stanley Dodds aus der Violingruppe logiert stets in einem Vororthäuschen, deren Besitzer dann mit den Mieteinnahmen verreisen.
Die Berliner Philharmoniker lieben Salzburg, einige Musiker haben sich nach ihrer Pensionierung sogar in der Gegend niedergelassen. Und doch werden sie nach dem Ende dieser Osterfestspiele der Stadt den Rücken kehren. Blutenden Herzens. Aus rein finanziellen Gründen.
Eine Wahnsinnsidee war die Sache von Anfang an. Herbert von Karajan wollte unbedingt Richard Wagners "Ring des Nibelungen" aufführen. Also gründete er sich sein eigenes Festival, 1967, in seiner Heimatstadt. Er dirigierte, er inszenierte, er war der Produzent. Eine One-Man-Show mit obligatem Orchester, komplett privat finanziert. Reiche Freunde hatte der Maestro genug. Die verpflichtete er, als Förderer beachtliche Summen zu spenden – und gleichzeitig für die nur im Komplettpaket abzugebenden Tickets sehr hohe Preise zu zahlen. Bis heute trägt dieser noble Unterstützerkreis die Unternehmung, bis heute erwirtschaften die Osterfestspiele 92 Prozent ihres Budgets selber. Oper mit den Philharmonikern und Gesangsstars, das kostet 2012 zwischen 190 und 510 Euro pro Eintrittskarte.
Und rechnet sich dennoch nicht. Vor allem auch, weil die alljährliche Musiktheaterproduktion nur zweimal gezeigt wird. Verzweifelt haben die Musiker in den letzten Jahren um eine wirtschaftlich solide Basis gerungen. Die „Carmen“-Inszenierung, mit der am Samstag das Festival startete, ist auch in Madrid zu sehen, Wagners „Ring des Nibelungen“ wurde mit dem Festival von Aix en Provence koproduziert. Die französischen Partner bestanden aber darauf, dass die Premieren dort herauskamen – was die Idee der Exklusivität Salzburgs ad absurdum führte.
Als 2008 bekannt wurde, dass sich der langjährige Geschäftsführer zusammen mit Kumpanen über drei Millionen Euro in die eigenen Taschen abgezweigt haben soll, war das nur der letzte Tropfen im übervollen Fass. „Alternativlos“ nennt der Geiger Stanley Dodds den Entschluss, Salzburg aufzugeben.
Weil das Orchester aber weiterhin auch Oper spielen will, sah man sich nach Alternativen um. Das Luzerner Festspielhaus? Dort gibt es keine musiktheatertaugliche Bühne. Bayreuth? „Die Pointe wäre zu stark gewesen“, findet Andreas Wittmann. Also Baden-Baden. Dort griff man sofort zu. Die kurze Mitteilung, mit der die Salzburger im vergangenen Mai in Kenntnis gesetzt wurden, hat viele verbittert. Seit feststeht, dass Christian Thielemann und die Dresdner Staatskapelle die Nachfolge antreten werden, sind zumindest die Hoteliers und die konservativen Klassikliebhaber beruhigt. „In Würde“ solle der letzte Frühlingsaufenthalt der Preußen über die Bühne gebracht werden, gab Osterfestspiel-Intendant Peter Alward als Devise aus. Und der Orchestervorstand wünscht sich im Vorwort zum Programmbuch: „Bleiben Sie uns gewogen.“
Um es positiv zu formulieren: Mit der neuen „Carmen“ machen Simon Rattle und die Seinen dem Salzburger Publikum den Abschied so leicht wie möglich. Magdalena Kozena, die Ehefrau des Chefdirigenten, ist keine typische Opernzigeunerin. Keine dieser rassigen Mezzodiven mit gutturaler Tiefe und messerscharfen Spitzentönen. „Lasziv“ ist das letzte Adjektiv, dass einem beim Anblick der zierlichen Tschechin einfällt. Und doch könnte Magdalena Kozena eine interessante Carmen sein. Wenn das Stück nicht so gegeben wird wie gewohnt, nämlich ästhetisch eingemeindet zwischen spätem Verdi und Giacomo Puccini. Sondern so, wie es Georges Bizet 1875 konzipiert hat: als opéra comique nämlich, die ja nichts mit Komik zu tun hat, sondern mit Dialogen statt gesungener Rezitative. Als Theaterstück mit Musik, in dem die Arien keine Selbstreflexionen sind, nicht Innenschau, bei der die Handlung anhält, sondern Lieder, spontan aus der szenischen Situation geboren. Wie Magdalena Kozena ihren Part im Kartenterzett des dritten Aktes gestaltet, das ist hohe Kunst, sensibel und differenziert, eine edel geschwungene Linie über atmosphärischer Orchesterbegleitung. Opéra comique eben. Nur leider hat das, was dazu aus dem Graben erklingt, wenig mit dem Genre zu tun.
Tatsächlich ist „Carmen“ auch keine glückliche Wahl für die Berliner. Bei Wagners wissendem Orchester, bei Richard Strauss’ Klangorgien, da können sich sinfonisch spezialisierte Musiker entfalten. Bei Bizet aber ist vor allem eine dienende Funktion gefragt. Und da hört man doch, dass die Philharmoniker nur einmal pro Jahr Oper spielen. Dass ihnen die Kniffe und Tricks des Musiktheaters wenig vertraut sind, dass sie nicht automatisch erspüren, wo man Akzente setzen, und wo man die Musik einfach laufen lassen kann.
Mit der Berliner Staatskapelle, dem Hausorchester der Lindenoper, ist Simon Rattle jüngst eine ganz wunderbare, genuin französische Deutung von Chabriers 1877 uraufgeführtem „L’Etoile“ gelungen. In Salzburg wirkt er wie ein unerfahrener Kapellmeister. Und das Orchester irritiert, weil die Musiker auf jede Note gleich viel Aufmerksamkeit verwenden. Dadurch hört man Details, die man bislang nie wahrgenommen hat. Vieles aber wird auch zum Störgeräusch, wenn sich mal wieder eine Nebenstimme in den Vordergrund drängt. Vom formidablen Wiener Staatsopernchor lässt sich Rattle in den Massenszenen zum heftigen Krachschlagen mitreißen. Auch sonst stimmt die Balance oft nicht, werden die Sänger oft vom Orchester zugedeckt. Bis auf Jonas Kaufmann natürlich. Der Alleskönner-Tenor des Augenblicks macht einfach ganz große Oper, verströmt sich kraftvoll und leidenschaftlich, als wär’s ein Stück von Puccini. Und findet dabei sogar zu einem gemeinsamen Atem mit Dirigent und Orchester. Den herzlichsten Applaus allerdings erhält am Ende Carmens Gegenspielerin, die von Genia Kühmeier mit blühendem Sopran und emotionaler Innigkeit ausgestattete Michaela.
Es wird viel getanzt in Aletta Collins’ Inszenierung. Gleich in Kompaniestärke treten die Flamencoseñoritas an, schwingen ihre Röcke in jeder möglichen und unmöglichen Situation. Die Regisseurin hat keine Fragen an das Stück, beschränkt sich aufs optisch attraktive Arrangement, mit ein paar schönen Details in der Personenführung und viel szenischer Konvention. Ausgerechnet hier: eine Produktion, die sich im Repertoirebetrieb zwanzig Jahre halten könnte, weil sich wechselnde Sängerbesetzungen ruck, zuck einarbeiten lassen. Für jeden Akt gibt es ein eigenes hübsches Bühnenbild. Besonders bunt und turbulent gerät die finale Fiesta vor der Pappmaché-Arena.
Dann ist Carmen tot, Don José lässt sich festnehmen, und die Berliner Philharmoniker werden am Ostermontag, nach sechs Konzerten und dem zweiten Opernabend, beim Abschied leise Servus sagen. 2013 starten sie in Baden-Baden durch, im Salzburger Graben nehmen die Dresdner Kollegen Platz.
Die Neuen gibt’s übrigens zum Einführungspreis: Die besten Tickets kosten dann nur noch 490 Euro.
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