Kultur: Schwerstarbeit am Ich
Witzig und mutig: Daniela Löffner inszeniert „Alltag & Ekstase“ in den Kammerspielen des DT.
„Die Suche nach der angeblichen Schönheit der Natur ist eine solche Zumutung“, stöhnt die Best-Agerin Gitta und nestelt missmutig an ihrem Karabinerhaken herum. In einem kosmonautenartigen Survival-Outfit hockt sie auf dem Mount Everest fest und friert. Denn leider herrscht Stau auf dem Gipfel. Außer Gitta hatten noch ein paar hundert andere Individualtouristen die Idee, sich im hochpreisigen Erlebnisurlaub selbst zu entgrenzen.
„Alltag & Ekstase“, das neue Stück von Rebekka Kricheldorf, ist ein äußerst witziger Kommentar zum allgegenwärtigen Selbstoptimierungszwang. Die 39-jährige Autorin – eine Expertin der unverkrampft-misanthropischen Pointe – lässt ein halbes Dutzend durchtherapierter Zeitgenossen aufeinander los, die allesamt wacker an sich selbst schuften. Wobei nicht jeder diese „Arbeit am Ich“ so diskret im Urlaub erledigt wie Gitta: Die Familie um den Enddreißiger Janne (Jannek Petri) beispielsweise geht sich beim Ego-Shaping auch in den heimischen Wänden rund um die Uhr auf die Nerven.
So fordert Jannes Ex-Freundin und Wieder-Sexpartnerin Katja (Franziska Machens) gebetsmühlenartig gesamtfamiliäre Klärungsgespräche über Jannes unkooperatives „Ficktempo“ ein. Ex-Schwiegermutter Sigrun (Judith Hofmann) beißt in ökologisch korrektes Gemüse aus dem Landhausgarten, während sie ihrem Sohn wegen dessen „Unreife“ den Marsch bläst. Und Jannes Vater Günther (Harald Baumgartner) – ein kimonotragender Kritiker der „heteronormativen Leitkultur“ – treibt sein „emotionales Umfeld“ mit „Ethno-Kitsch“ zur Weißglut.
Ob mexikanische Todes- oder indianische Stammesriten: kein Brauch, den Günther nicht in pflichtschuldigster Political Correctness in sein Selbstoptimierungsprogramm integriert hätte. Es sei denn, es handelt sich um deutsche Proll-Dionysien wie das Oktoberfest oder den Kölner Karneval. Dafür ist Günthers japanischer Ethnologen-Freund Takeshi (Thomas Schumacher) zuständig, der mit einem Rollkoffer voller Narrenkappen und Lederhosen vor der Tür steht, um erstens „deutsche Brauchtum“ zu studieren und zweitens die Familie in eine ordentliche Eskalationsdramaturgie zu treiben.
Bühnenbildnerin Claudia Kalinski hat Kricheldorfs Ich-Arbeitern eine Art hölzerne Selbstverwirklichungsmanege gebaut. Und die Uraufführungsregisseurin Daniela Löffner lässt hier tatsächlich derart genüsslich die Leinen los, dass man fast von Überengagement sprechen muss. Gleich zu Beginn, beim Stau auf dem Mount Everest, wird gebibbert und geschrien, was das Zeug hält. Auch als die Schauspieler anschließend in einem Albtraum von Janne zu dröhnendem Ethno-Sound als rituelle Baströckchen-Combo über die Bühne hüpfen, bleibt kein Auge trocken. Wenn Takeshi Janne später zu einer Oktoberfest-affinen Kirmes schleppt, kann München in puncto Bierseligkeit und Schlagergrölerei unter Promille-Einfluss tatsächlich einpacken. Und die Szene, in der der eifrige japanische Gast dem deutschen Mein-Leben-ist-ein-Scheißprojekt-Jammerlappen schließlich die folgenschwere Teilnahme an einem altgermanischen Ritus aufschwatzt, wird zur ausgedehnten Ringkampfnummer: Minutenlang probieren die Jungs ihr Kampfsportkurs-Repertoire aneinander aus, während die Kollegen sie von der Seite mit Kunstblut aus Plastikflaschen besprühen.
Eingedenk der Tatsache, dass viele gegenwartsdramatische Uraufführungen eher zum ästhetischen Purismus neigen, muss man Löffners Ansatz mutig nennen. Andererseits versackt die eine oder andere Pointe von Kricheldorfs treffsicherem Dialog-Ping-Pong hoffnungslos in diesem szenischen Aktionismus. Und dass Löffner, die ihr Handwerk unter anderem als Assistentin bei Jürgen Gosch lernte, großes Talent zur Schauspielerführung hat, wird auch nur in einigen Fällen deutlich. Der eine oder andere Kollege legt seinen Charakter zumindest momentweise allzu deutlich als Witzfigur an. Kricheldorfs Humor speist sich aber nicht aus dieser reinen Oberfläche.
Eine der interessantesten Personen des Abends kommt bei Kricheldorf übrigens gar nicht leibhaftig vor: Katjas und Jannes Tochter River existiert in der Textvorlage nur als „dickes Kind in diesen rosa Klamotten“, für dessen Missratenheit sich Eltern wie Großeltern wechselseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Löffner hingegen lässt den Teenager (Nermina Jovanovic) quasi als personifizierte Weigerung zur allgegenwärtigen Selbstoptimierung auftreten.
Nahezu abendfüllend hockt das Kind – ein stummer Elternschreck und Pädagogenalbtraum par excellence – auf der Bühne und lässt jeden Versuch einer Ansprache genüsslich an sich abperlen. Munter wird es nur, wenn Vater Janne etwa einen Oktopus aus Plüsch vom Greenpeace-Stand mitgebracht hat: Dann steht River auf, lässt die Hände ausnahmsweise vom permanent tönenden Handy, greift sich stattdessen mit links das rosafarbene Ungetüm und mit rechts – aus der Hosentasche – ihr Messer und bohrt dem Oktopus mit Hingabe das Auge aus.
Man kann River natürlich verstehen. Wie sagt es Günther am Ende doch so schön: „Kann ich hier jetzt nicht einfach mal sitzen und leiden, ohne dass da wieder jemand therapeutisch im Moment rumsteht, in meinem privaten Leidensmoment?“ Andererseits wäre es um Kricheldorfs Im-Moment-Herumsteher wirklich schade: Sie machen ziemlichen Spaß.
Wieder am 23. und 28. Januar, 20 Uhr
Christine Wahl
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