Der neue Roman von Brigitte Kronauer: Schützt den Wildwuchs!
In „Gewäsch und Gewimmel“ erzählt Brigitte Kronauer auf über 600 Seiten vom Altern, der Angst vor dem Tod - und wie man sich davor in Deckung bringt.
Zwei Frauen machen die Welt dieses Romans bewohnbar, das Gewimmel und Gewusel, das Gerede und Geraune. Sie lockern Zungen, massieren Gliedmaßen und bringen Ordnung in das Gepurzel der Figuren: die schöne Krankengymnastin Elsa Gundlach und Luise Wäns, ihre Lieblingspatientin, längst nicht mehr jung, aber heimlich verliebt in einen gewissen Hans Scheffer, der sich die Renaturierung eines von der Eiszeit geformten Landstrichs westlich von Hamburg zur Aufgabe gemacht hat.
Wer den neuen Roman von Brigitte Kronauer, Büchner-Preisträgerin des Jahres 2005, zu lesen beginnt, der sollte erst einmal die eigenen Schultern lockern, den Kopf im Lehnsessel verstauen und den 600-Seiten-Wälzer so lagern, dass sein Gewicht nicht zu Verkrampfungen führt. Denn er braucht Geduld und Muße. Und eine Geisteshaltung wie beim Betrachten eines Breughel-Bildes: Freude am Detail, langsames Vortasten in einen Binnenraum, der sofort da ist, aber seine Geschichte nur preisgibt, wenn man allen Fingerzeigen gleichermaßen folgt, den Menschen, den Tieren, der Landschaft, dem Wetter.
„Gewäsch und Gewimmel“ ist das Sittengemälde einer Menschenschar, die wie zusammengewürfelt wirkt und doch fein verknüpft ist. Wird die Welt nicht genau so zusammengehalten: von Klatsch und Tratsch, von Überlegungen, die man über andere anstellt und im Stillen über sich selbst? Die rothaarige Elsa ist eine begnadete Empathikerin. Tagsüber massiert sie, schenkt ihren Patienten Wohltaten und spornt sie zu therapeutischem Turnen an, nachts formt sie aus den Lebensschnipseln, die ihr zugetragen werden, kleine Geschichten. Oft rauben sie ihr den Schlaf. Dann raunt sie ihre Menschenporträts dem schlafenden Freund zu, dem geduldigen Henri, der sein lauschendes Ohr ohne Klagen zur Verfügung stellt, obwohl er früh aus den Federn muss.
Wie lange Henri das noch mitmacht, werden wir nie erfahren. Aber wir merken, dass er damit eine kleine Meisterleistung vollbringt. Der Roman wimmelt von solchen Kunststücken unauffälliger zwischenmenschlicher Äquilibristik. In einer der zahlreichen Anekdoten erfahren wir etwa, wie oft sich Anita die kulturpessimistischen Tiraden ihres Mannes anhört, oder wie sich Frau Gadow von ihrem Gatten, einem pensionierten Biochemiker, über technische Raffinessen belehren lässt (und sei es nur das Funktionieren seines neuen Rasierapparats).
Auch die im Leipziger Zoo ehrenamtlich tätige Herta pflegt mit ihrer in Hamburg lebenden Freundin Ruth fürsorglichen Umgang. Sie schreiben sich regelmäßig Briefe. Als sie eines Tages bemerkt, dass die Freundin, nachdem sie ihren Beruf als Kulturbeauftragte aufgegeben hat, langsam in eine Depression rutscht, setzt sie sich postwendend in den Zug, um sie in bewährter Manier aufzuheitern: mit gemeinsamen Geschirrspülorgien, bei denen es sich wunderbar lästern und tratschen lässt, bevorzugt über Paare. „Aufstampfend vor Entschiedenheit“ skandieren die beiden allein lebenden Frauen: „Wir aber freuen uns unseres Lebens, und es geht uns passabel!“
Der Roman ist gebaut wie ein Triptychon. Im ersten und letzten Teil purzeln die Figuren wild durcheinander. Oft sind die einzelnen Passagen nicht einmal eine halbe Seite lang, manchmal sind es ganze Szenen oder Anekdoten. Auch Zeitungsschnipsel, Fernsehnachrichten, Rätselfragen werden dargeboten (und manchmal wird der Leser geprüft, ob er richtig aufgepasst hat). Die wichtigsten Figuren tauchen immer wieder auf: etwa der vom Avantgardisten zum „Plothuber“ gewordene Schriftsteller Egon Pratz, dessen Schaffenskraft im selben Maße schwindet, wie sein Zynismus zunimmt, der Pastor Clemens Dillburg, die vereinsamte Frau Fendel, der muntere Bergwanderer Herbert Wind, der sich mit Billiglohnjobs durchschlagende Alex, die kleine Ilse, eine unentschlossene junge Frau namens Eva Wilkens, die Studentin Katja, das liebende Ehepaar Sykowa, der Hundebesitzer Brück, die Fotografin Babs Roeland. Eine weitere Gruppe von Figuren, etwa die boshafte Galeristin Iris Steinert, der an Krebs erkrankte Ökometzger Wilhelm und seine schwangere Freundin Ilona, der Fotograf Jörg Finnland, der Frauenarzt Herzer und seine Frau Jeanette, werden erst im Mittelteil eingeführt, um im dritten Teil das Gewimmel der anderen Figuren zu bereichern.
Zwölf Wanderungen auf verschlungenen Wortwegen
Dieser Mittelteil bildet das Herzstück des Romans. Im Zentrum steht die verwitwete Icherzählerin Luise Wäns, Mutter der mürrischen Sabine, einer Bankangestellten, deren trostlose Physiognomie sie ebenso unerbittlich ins Visier nimmt, wie sie das Flämmchen der Liebe nährt, das Hans Scheffer, der Leiter des Renaturierungsprojekts, nicht nur in ihr entzündet hat. Jeden Morgen zieht sie hinaus in die Landschaft und redet dabei stillvergnügt vor sich hin.
Zwölf dieser Wanderungen strukturieren das Geschehen und vergegenwärtigen das letzte Jahr. Man denkt dabei nicht von ungefähr an einen Kalender. Der Wechsel der Jahreszeiten, von Regen, Sonne, Schnee, spielt eine wichtige Rolle. Aber auch, was sich in der kleinen Gemeinschaft tat, als Hans Scheffer zu der Runde stieß, die Luise Wäns regelmäßig in den Tristanweg einlud.
Plötzlich strahlten die Gesichter. Die Frauen bekamen rote Wangen, wurden geschmeidiger, stöckelten herum. Die Männer bemühten sich, geistreich zu sein, wurden lebhaft, amüsant. Auch Hans Scheffer verliebte sich. Allerdings nicht in Luise Wäns, sondern in eine Indianerin aus Alaska, ungefähr um die gleiche Anzahl an Jahren jünger wie er im Verhältnis zu Luise. Am Ende heiratet er Sabine, deren Sohn sich mit 15 Jahren aus Liebeskummer tötete.
Hört sich alles ziemlich seltsam an? Das ist es in der Tat. Denn nicht nur Hans Scheffer arbeitet an einem Renaturierungsprojekt, das schließlich an politischen Widerständen scheitert, auch Brigitte Kronauer scheint ein solches Projekt zu verfolgen. Schon immer ist ihr Werk zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen aufgespannt, meist siegen aber Klarheit und Struktur über den Wunsch nach Verwilderung. Nun gibt sie ihm zum ersten Mal in der epischen Großform nach. Zwar ist der Roman deutlich als Erzählaltar komponiert, doch innerhalb dieser Komposition darf es blühen und wuchern. „Auf gestörten Böden wächst oft die interessanteste Wiesenflora“, gibt der Renaturierungsexperte Hans einmal zu bedenken, als es um die Vergiftung von Flora und Fauna durch Chemikalien geht.
Pragmatismus, Normierung und ökonomische Zwänge sind die Zielscheibe von Brigitte Kronauers Gesellschaftsbild, dem sie ein Bild von Mensch und Natur entgegenhält, das der Besonderheit und der kleinen, niemals pompösen Abweichung huldigt. Neben all den emphatischen Augenblicken der Liebe und des Glanzes, neben den vor Energie geradezu berstenden Szenen erotischer Verzückung gab es in ihrem Werk stets auch die Verbeugung vor dem Skurrilen, vor den komischen Käuzen und seltsamen Praktiken, die Menschen erfinden, um mit Anstand durchs Leben zu kommen. Es ist dieses Menschenbild, das alle Werke Brigitte Kronauers beseelt. Trotz ihres scharfen Blicks und ihrer Neigung zu lustvoller Boshaftigkeit muss man es barmherzig nennen.
Das Gewimmel der Gemütsregungen, der Stimmungen und Details ist in diesem Roman ebenso wichtig wie die einzelnen Figuren. Manchmal erinnert sich Elsa nur an einen Satz oder eine Geste, ohne zu wissen, zu welcher Person sie gehören. Selbst Luise Wäns, die einzige umfassend dargestellte Figur, prägt sich am stärksten ein durch Details: dass sie bei ihren einsamen Wanderungen den Rucksack mit Geld und Schmuck füllt, ganz allein der Freiheit und des Lebenssinns wegen; dass sie einmal überlegt, ob wohl je ein Maler das Gesicht einer alten Frau beim Anblick ihrer früher getragenen hochhackigen Schuhe porträtierte; oder jener merkwürdige Satz, der ihr über die Liebe in den Sinn kommt: „Im Leben muss man barmherzig sein, da muss man (...) das Normale gestatten und die Müdigkeit. Man muss mit unbeirrbarer Liebe die Erschlaffung des anderen überstehen.“
„Gewäsch und Gewimmel“ lässt sich als Gegenbild zu „Die Frau in den Kissen“ verstehen, dem großartigen Klagegesang auf die verlorene Ganzheit der Natur. Es ist eine Verteidigung der „Schutzgebiete“, in denen das scheinbar Unnütze, das nicht mehr Attraktive, das Althergebrachte überdauern kann. Dass dieser Roman auf Kalendergeschichten und Legenden zurückgreift, ist Teil seines Renaturierungsprojekts: Die Tradition soll leben, im Wildwuchs blühen, und sei es in den kleinsten Ritzen. Brigitte Kronauers zehnter Roman erzählt vom Altern und der Angst vor dem Tod und von all den merkwürdigen Lebensgemeinschaften, in denen sich Menschen davor in Deckung bringen.
Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 612 Seiten, 26,95 €.
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