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© Koen Wessing/Hollandse Hoogte/laif

Die Geschichte: Schuss ins Herz

Am 24. März 1980 wurde der Erzbischof von San Salvador ermordet. Sein Tod war der Auftakt zu zwölf Jahren Bürgerkrieg – bis heute wird Oscar Romero verehrt wie ein Heiliger

Der 24. März 1980 verspricht ein heißer Tag zu werden in San Salvador. Schon am Morgen ist es so warm, dass die Tür zur Krankenkapelle des „Spitals zur göttlichen Vorsehung“ offen bleibt, während drinnen Oscar Romero eine Totenmesse liest. Auf den Bänken drängen sich die Menschen, viele sind gekommen, nicht um den Verstorbenen zu ehren, sondern weil sie den Prediger hören wollen. Oscar Romero, Erzbischof von San Salvador, ist ein mutiger Mann. Und er ist der einzige in dem zentralamerikanischen Land, der jetzt noch seine Stimme in aller Öffentlichkeit gegen die Militärdiktatur El Salvadors erhebt.

Romero steht vor dem Altar am Ende des Mittelgangs. Plötzlich fällt ein einziger Schuss, nicht laut, möglich, dass ihn nicht einmal alle gehört haben. Der Bischof sackt zusammen, fällt vornüber, liegt in seinem Blut am Boden. Zwei Nonnen eilen herbei, beugen sich über ihn. Sie können ihm nicht mehr helfen.

Wahrscheinlich hat Romero seinen Mörder gesehen. Zeugen des Attentats sagen, er habe kurz bevor er getroffen zusammensackte, das Gesicht wie zur Abwehr zur Seite gewandt. Die Kugel, ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss des kleinen Kalibers 22, schlägt direkt über dem Herzen des Erzbischofs ein. Ein befreundeter Pfarrer mutmaßte schon damals: „Das ist kein salvadorianischer Killern gewesen. Die mähen ihre Opfer mit 25 oder 30 Schüssen aus der Maschinenpistole nieder.“ Robert White, 1980 Botschafter der USA in El Salvador, gibt zu Protokoll, er habe Informationen, nach denen ein exilkubanischer Scharfschütze für den Mord angeheuert worden sei.

Eine Woche nach dem tödlichen Schuss wird Oscar Romero begraben. Sein Leichnam ist am Vormittag vor dem Eingang der Kathedrale aufgebart. Über 100 000 Menschen sind auf den großen Platz vor dem mächtigen Bau gekommen, um sich von ihrem Hirten zu verabschieden, der die Zustände im kleinsten Land Zentralamerikas öffentlich angeprangert hatte. 14 Familien der Kaffee- und Zuckerrohr-Oligarchie haben das Land seit beinahe 100 Jahren fest im Griff. Die Militärs verteidigen deren Privilegien mit grausamer Gewalt. Sogenannte Todesschwadronen ermorden im Schutz der Nacht die Vertreter der Opposition, egal ob es sich um kleine Bauernführer, Gewerkschafter, Intellektuelle oder Politiker handelt. Jetzt hatte es am helllichten Tag den Erzbischof getroffen.

Nur wenigen von ihnen ist zu Beginn der Beerdigungsfeier aufgefallen, dass auf den Dächern um den Platz vor der Kathedrale Männer in geduckter Haltung hin und her huschen. Die Armee hat Scharfschützen postiert. Auf ein Kommando feuern sie in die Menge. Panik bricht aus. Wer in der Nähe der Kathedrale steht, flüchtet sich in den wuchtigen Betonbau, der errichtet wurde, einem Erdbeben standzuhalten. Die anderen versuchen, so schnell wie möglich wegzulaufen. Doch Soldaten blockieren die Zugangsstraßen. Mindestens 50 Menschen werden an diesem Tag erschossen, mehr als 600 verletzt. Am Abend liegen noch immer Tausende von Schuhen über den Platz verstreut, die die Trauernden bei der Flucht verloren haben.

Die Trauerfeier für den Erzbischof war für viele Jahre die letzte große öffentliche Kundgebung in El Salvador. Hector Dada, der 1979 kurzzeitig Mitglied einer Regierungsjunta aus Militärs und Christdemokraten war und heute Wirtschaftsminister der Mitte-Links-Regierung ist, vermutete, dass mit dem Schuss ins Herz von Romero ein spontaner Volksaufstand provoziert werden sollte. Die Militärs hätten dann eine Rechtfertigung für ein noch härteres Vorgehen gehabt. Tatsächlich aber waren dieser Schuss und das Massaker bei der Beerdigung der Auftakt zu einem zwölfjährigen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf 75 000 Menschen starben.

Als Oscar Arnulfo Romero am 3. Februar 1977 zum Erzbischof von San Salvador ernannt wurde, hatten die Militärs und Oligarchen des Landes noch aufgeatmet. Sie hatten befürchtet, Papst Paul VI. werde Arturo Rivera y Damas, den Favoriten der salvadorianischen Befreiungstheologen, auf den wichtigsten Bischofsstuhl des Landes setzen. Der damals 59-jährige Romero dagegen galt als konservativer Kirchenmann. Er stand damit gegen die Mehrheit seiner Priester und vor allem gegen den Kleriker-Nachwuchs. Die Seminaristen der katholischen Kirche hatten seit dem Ende der 60er Jahre mehr Zeit auf dem Land als in der Studierstube verbracht.

1968 hatten die lateinamerikanischen Bischöfe bei einer Synode im kolumbianischen Medellin ein Papier verabschiedet, das die Armen ins Zentrum ihrer Pastorale stellte. Die salvadorianischen Jungtheologen nahmen das ernst und organisierten die Landarbeiter in der „Christlichen Föderation der salvadorianischen Bauern“. Sie zettelten Streiks und Landbesetzungen gegen die Ausbeutung durch Großgrundbesitzer an. Die schickten als Antwort das Militär. Doch darauf bildeten sich Anfang der 70er Jahre gleich mehrere Guerilla-Organisationen. Das halbe Priesterseminar von El Salvador schloss sich den bewaffneten Gruppen an. Sie waren noch klein und nur zu einzelnen Überfällen und Entführungen in der Lage. Erst nach dem Tod von Romero verbündeten sich die fünf Organisationen, nannten sich nach einem Kommunistischen Arbeiterführer der 20er und 30er Jahre „Nationale Befreiungsfront Farabundi Martí“ (FMLN) und bekamen massenhaft Zulauf.

Dass Papst Paul VI. ausgerechnet den konservativen Romero zum Erzbischof von San Salvador gemacht hatte, hatte seinen politischen Sinn. Die Oligarchie erwartete von ihm, dass er Schluss machen würde mit der Agitation seiner Seminaristen. Um diesen Auftrag zu unterstreichen, ermordete eine Todesschwadron am 12. März 1977 den Landpfarrer Rutilio Grande, der in dem Städtchen Aguilares im Norden von San Salvador die Bauern organisiert hatte. Er und zwei seiner Katecheten wurden auf einer Landstraße überfallen und regelrecht von Schüssen durchsiebt.

Der Mord hatte nicht die gewünschte Wirkung. Seit der gemeinsamen Zeit im Priesterseminar waren Grande und Romero befreundet. „Der Mord hat den Erzbischof verändert“, urteilte später sein direkter Nachfolger Rivera y Damas. Romero boykottierte fortan alle staatlichen Empfänge. Stattdessen besuchte er Armenviertel und Bauerngemeinden so oft wie kein anderer Bischof vor ihm. Der ursprünglich steife Kleriker, der hinter seiner dicken Hornbrille immer etwas distanziert erschienen war, wurde ein Bischof des Volkes. Einer, der sich hinsetzte zu den einfachen Leuten und ihnen zuhörte, und der hinterher deutlich aussprach, was er erfahren hatte. Er sagte, er wolle denen eine Stimme geben, die keine Stimme haben. In seinen sonntäglichen Predigten trauerte er nicht nur um die Toten, er nannte auch die Mörder beim Namen. Und den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter forderte er öffentlich auf, die Militärhilfe für El Salvador einzustellen.

Trotzdem war Romero nie ein Freund der Guerilla. Zwar duldete er, dass seine Kathedrale zum Teil für mehrere Wochen von linken Bauernorganisationen besetzt wurde. Gewalt als Mittel des Widerstands aber lehnte er ab. Als am 15. Oktober 1979, kein halbes Jahr vor seinem gewaltsamen Tod, die Militärs mit einem Staatsstreich endgültig die Macht übernahmen, sympathisierte er sogar zunächst mit den Putschisten. Es half ihm nicht. In den Augen der Oligarchen und Generäle war Romero längst ein gefährlicher Kommunist.

Eine Woche vor seinem Tod wurde neben dem Altar in der Kathedrale ein Sprengsatz entdeckt und entschärft. Die rechte Tageszeitung „El Diario de Hoy“ rief in einem Leitartikel die Militärs dazu auf, sie sollten „schon einmal ihre Gewehre ölen“. Doch Romero gab nicht klein bei. Seine berühmteste Predigt hielt er am 23. März 1980, dem Tag vor dem Schuss. Die entscheidende Passage wendet sich direkt an die Militärs: „Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu gehorchen, der gegen das Gesetz Gottes verstößt. Es sind Brüder aus unserem eigenen Volk, die auf dem Land ihre eigenen Brüder töten. Niemand muss einem unmoralischen Befehl gehorchen. Im Namen Gottes und im Namen dieses leidgeprüften Volkes, dessen Klagen jeden Tag lauter zum Himmel steigen, ersuche ich euch, bitte ich euch, befehle ich euch: Hört auf mit der Repression!“ Dieser Aufruf zur Befehlsverweigerung war sein endgültiges Todesurteil.

Schon wenige Wochen nach dem Attentat, als ein Zirkel von Verschwörern bei der Vorbereitung eines weiteren Staatsstreichs ertappt wurde, fand man Unterlagen, die den Auftraggeber des Mordes nannten. Der Bericht einer nach dem Bürgerkrieg einberufenen Wahrheitskommission der Vereinten Nationen fasste 1993 das seit damals Bekannte zusammen: „Der ehemalige Major Roberto D’Aubuisson gab den Befehl, den Erzbischof zu ermorden. Er gab präzise Anweisungen an seine als Todesschwadronen operierenden Sicherheitskräfte, und er organisierte und überwachte die Ausführung des Mordes.“

D’Aubuisson hat dies nie abgestritten. Jedem, der es hören wollte, sagte er freundlich lächelnd: „Das muss mir erst einmal nachgewiesen werden.“ Der ehemalige stellvertretende Geheimdienstchef und Drahtzieher der Todesschwadronen wusste, dass er sich auf die korrupte salvadorianische Justiz verlassen konnte. Bis zu seinem Krebstod im Februar 1992, zwei Monate nach dem Ende des Bürgerkriegs, blieb D’Aubuisson unbehelligt. Die politische Rechte El Salvadors verehrt ihn noch immer. Bis heute pilgert sie an seinem Todestag zu seinem Grab auf dem Heldenfriedhof von San Salvador und rühmt dort seine Taten. Der Mord an Bischof Romero wird dabei nicht erwähnt. Selbst die offizielle katholische Kirche hat den Bischofsmörder nie verstoßen. Papst Johannes Paul II. gab nach dem Mord zwar den Zerknirschten und sprach von „Schmerz und Leid“. Aber als er 1983, mitten im Krieg, El Salvador besuchte, schüttelte er D’Aubuisson freundlich die Hand.

Der Kommunistenhasser D’Aubuisson, für den selbst Christdemokraten linksextrem waren, hat etwas geschaffen, das der Oligarchie 20 Jahre lang die Macht in El Salvador sicherte: 1981 gründete er die „Republikanisch-Nationalistische Allianz“ (Arena). 1989 kam die Partei an die Regierung und hat sie zwei Jahrzehnte lang nicht mehr abgegeben. Sie verbindet eine an den Faschismus erinnernde nationalistische Ideologie mit einer neoliberalen Praxis, die unter Privatisierung und Strukturanpassung die Ausplünderung des Staats durch einen kleinen und steinreichen Familienklüngel versteht.

Dass diese Mafia trotzdem einen Friedensvertrag mit den in der „Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí“ (FMLN) zusammengeschlossenen Guerilla-Organisationen aushandelte und Anfang 1992 unterschrieb, ist keinem Sinneswandel zuzuschreiben, sondern den historischen Umständen. Nach zwölf Jahren war längst klar, dass weder die Armee noch die Guerilla diesen Krieg gewinnen konnte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wahlniederlage der linken Sandinisten in Nicaragua war das kleinste Land Zentralamerikas nicht mehr wichtig für die USA. Große Unterstützung aus Washington konnte die Arena-Regierung nicht mehr erwarten.

Doch erst im vergangenen Jahr wurden die Erben von D’Aubuisson von der Macht verdrängt. Im März gelang es der FMLN, mit einem Kandidaten ohne Guerilla-Vergangenheit, eine Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Seit dem 1. Juni ist der ehemalige Journalist Mauricio Funes Präsident. Schon bei seiner Rede zur Amtseinführung berief er sich auf Erzbischof Oscar Arnulfo Romero.

Tatsächlich haben Funes und Romero ein paar Dinge gemeinsam. Beide sind sie im Grunde konservativ und werden trotzdem wegen ihrer sozialen Anliegen zur politischen Linken gezählt. Beide vertrauten und vertrauen auf die Macht des Wortes. Romero war ein charismatischer Prediger, Funes im Krieg der einzige Journalist des Landes, der sich mit den Comandantes der Guerilla traf und Interviews mit ihnen veröffentlichte. Beide sympathisierten nie mit der militanten Linken und wurden von ihr trotzdem vereinnahmt.

Als Ende Februar der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nach El Salvador auf Staatsbesuch kam, ging Funes mit ihm zum Grab von Romero. Sein Leichnam liegt eingemauert in der Krypta unter der Kathedrale. Von einem Seiteneingang aus führt eine Treppe hinunter. Es ist angenehm kühl, aber auch ein bisschen trist. Das laute Gedränge des Stadtzentrums dringt nicht durch die dicken Betonmauern. Doch trotz der Stille lädt der Raum nicht zur Andacht ein. Es ist dunkel hier unten, weitläufig und ein bisschen staubig; fast wie in einer Tiefgarage. Ein Dutzend Bischöfe liegt dort begraben, doch nur Romero wird mit einer Statue geehrt. Sein Bild ist auf ein Demonstrationstransparent aus Marmor gemeißelt, die Enden des Tuchs werden von den vier Evangelisten gehalten.

„Bischof Romero hat einen Satz geprägt, der auch unserer Regierung als Leitspruch dient“, sagte Funes, als er mit Lula dort unten stand. „Er sagte, die Kirche müsse zuallererst auf der Seite der Armen stehen.“ Das sei auch der Platz für seine Regierung. Lula reihte sich ebenfalls ein in die Verehrer des Ermordeten: „Das Leben von Oscar Romero hat viel mit meiner eigenen politischen Entwicklung zu tun.“ Ob das wahr ist oder nur ein populistisches Lippenbekenntnis am richtigen Ort, mag dahingestellt sein. Die Gläubigen in El Salvador freuen sich über solche Sätze. Vor dem Grab Romeros brennen immer ein paar Kerzen. Sein Bild ist an viele Hauswände gemalt.

Manche dieser volkstümlichen Ikonen sind richtige Kunstwerke der naiven Malerei, andere gleichen eher schemenhaften schwarzen Schattenrissen. Doch jeder erkennt ihn sofort. Seine Silhouette ist in El Salvador so vertraut und geliebt wie die des Che Guevara in Kuba. Im Vatikan ist seit Jahren ein Heiligsprechungsverfahren anhängig und kommt nicht voran. Den meisten Salvadorianern ist das egal. Sie verehren ihren Märtyrer-Bischof schon lange als Heiligen Romero von Amerika.

Toni Keppeler

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