Jugendroman "Nichts": Schule der Grausamkeit
Die Dänin Janne Teller hat ihren existenzialistischer Jugendroman "Nichts" einfach und genial konstruiert.
Es gibt Jugendbücher, die auch Erwachsene unbedingt wahrnehmen sollten. Nicht nur, weil sie prägnanter geschrieben sind als vieles der so genannten E-Literatur. Was ist es, das Janne Tellers Roman „Nichts“ aus dem Jahr 2000 so provokant macht, dass er in Dänemark zunächst vehement abgelehnt, dann aber begeistert gefeiert wurde? Dass er in dortigen Schulen immer noch mit spitzen Fingern angefasst wird, während er nun endlich auf Deutsch erscheint? Zunächst die Tatsache, dass die zentrale Figur, der Junge Pierre Anthon, konsequent existentialistische Thesen vertritt. Dass es am Schluss so aussieht, als habe er Recht behalten, macht die Sache noch schlimmer.
Die Schule ist ein literarischer Ort mit großer Tradition, von Hesses „Unterm Rad“ und Musils „Törless“ über Goldings „Herr der Fliegen“ bis zu Morton Rhues „Die Welle“. Sie biete Kindern nur selten einen heilen Raum, was Schulromane immer wieder anprangerten. „Pierre Anthon verließ an dem Tag die Schule, als er herausfand, dass nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht lohnte, irgendetwas zu tun.“ Der erste Satz ist wie ein Paukenschlag, und so eindrücklich geht es weiter. Denn Pierre Anthon zieht sich wie Italo Calvinos Baron auf einen Baum zurück und bewirft seine Mitschüler mit matschigen Pflaumen und kernigen Sprüchen. „ ,Alles ist egal’, schrie er eines Tages. ‚Denn alles fängt nur an, um aufzuhören.’“
Die Klassenkameraden sind verunsichert, zornig und schließlich entschlossen, dem Schreihals zu beweisen, dass er Unrecht hat. Es gibt genug Bedeutendes in ihrem Leben, für das es sich lohnt, etwas „zu tun“! Klar, dass sie das nicht nur ihm zeigen wollen, sondern vor allem sich selbst. Jeder muss nun etwas opfern, was ihm lieb und wichtig ist. Diese Dinge werden gesammelt und auf einem „Berg der Bedeutung“ in einem stillgelegten Sägewerk angehäuft. Aber was harmlos beginnt, droht bald zu eskalieren. Rieke muss ihre Zöpfe abliefern und Gerda ihren Hamster, auch eine Adoptivurkunde und ein Gebetsteppich landen auf dem Berg.
Wer etwas geopfert hat, darf als nächstes bestimmen, so werden die Forderungen immer grausamer. Schließlich landen ein Kindersarg – samt Leiche – und eine Jesusstatue auf dem Berg der Bedeutung. Bis Sofie ihre Unschuld verliert und Johan, der Gitarrespieler, seinen Zeigefinger. Da endlich schreiten die Eltern ein und die Polizei. Es kommt zu einem spektakulären Finale.
Janne Tellers „Nichts“ ist einfach und genial konstruiert. Langsam baut sich die Spannung auf, die Handlung entwickelt sich mit kühler Konsequenz. Wuchtig und unaufhaltsam läuft das Geschehen ab, wie ein antikes Drama. Dabei schildert Agnes, die Ich-Erzählerin, die Geschehnisse mit absoluter Präzision und kalter Logik.
Gleichgültig, ja gnadenlos berichtet sie von den grausamen Ereignissen, unter jedem Satz tut sich ein moralischer Abgrund auf. Dass ihr jedes Mit-Leid fehlt ist genauso provozierend wie die Geschichte selbst. Und dass die Erwachsenen nichts bemerken von dem grausamen Treiben ihrer Kinder, eine zusätzliche Provokation. So hält Janne Teller den „engagierten“ Eltern und Lehrern von heute den Spiegel vor.
„Nichts“ ist kein realistischer Roman. Der „Berg der Bedeutung“ oder Pierre Anthons Pflaumenbaumleben wollen eher als Bilder oder Symbole verstanden sein. Das Buch erschüttert einen wie andere große Jugendromane vor allem dadurch, dass das Erzählte nicht unbedingt wahrscheinlich, aber denkbar ist. Egal, ob man ihn als philosophische, psychologische oder soziologische Studie liest, oder einfach als ein Stück großartiger Literatur – unberührt wird ihn niemand aus der Hand legen.
Wer meint, dieser nach langen Jahren der Ablehnung mittlerweile in 13 Sprachen übersetzte Bestseller der 1964 geborenen Dänin Janne Teller sei nichts für Jugendliche, täuscht sich. Er ist erschütternd, aber nicht unzumutbar – eine spannende Parabel über die Faszination der Grausamkeit, über die Verführung durch eine Gruppe, über die Entstehung von Fanatismus und die falsche Suche nach dem richtigen Leben.
Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Roman. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. Carl Hanser Verlag, München 2010. 140 Seiten, 12,90 €.
Sylvia Schwab
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