Kunst: Schrecken und Schönheit der Stille
Gerhard Richters RAF-Zyklus wird ausgerechnet in der Alten Nationalgalerie gezeigt. Von der Romantik in den Untergrund, vom Idealismus in den Terror und Selbstmord – wie nah liegt das, wie fern?
Wie fern liegt das, wie nah? Hier prunkt sonst Karl Friedrich Schinkels Monumentalwerk „Blick in Griechenlands Blüte“ (1825/36), jene Vision heroischer Menschen in idealer Landschaft. Hier gleich nebenan ruhen Caspar David Friedrichs entrückte Landschaften mit ihren zarten, verlorenen, vom Betrachter sich abwendenen Rückenfiguren. Hier sind die wildromantischen Träume, die Obsessionen, die politischen Visionen des deutschen 19. Jahrhunderts aufs Heftigste versammelt: „Der Deutschen Kunst 1871“ prangt am Giebel der Alten Nationalgalerie. Preußisches Walhall, Berliner Akropolis, Tempel des jungen, spät gegründeten Reichs.
Und hier ist Gerhard Richters Opus „18. Oktober 1977“ ausgestellt, der Stammheim-Zyklus. Fünfzehn Bilder, Fotobilder, grau und ungerahmt, in unterschiedlichen Formaten. Richter hat sie 1988 gemalt und später dem MoMA in New York verkauft. Was auch immer die Gründe gewesen sein mögen, den Zyklus aus dem Gerhard-Richter-Panorama der Neuen Nationalgalerie auszulagern – man kann sich kaum davon lösen. So hat man Richters Deutschen Herbst noch nie gesehen, hinter klassizistischen Säulen, in einem imperialen Raum der Kunstandacht. Die Ansicht der Isolationszelle, der Plattenspieler, das Gesicht der jugendlichen Ulrike Meinhof und die liegende „Tote“, der Schatten der erhängten Gudrun Ensslin, das große Bild vom RAF-Begräbnis in Stuttgart – sie strahlen eine kühle Ruhe aus. Sie hängen nicht unmittelbar zwischen Schinkel und Friedrich, aber sie sind auf Tuchfühlung. Von der Romantik in den Untergrund, vom Idealismus in den Terror und Selbstmord – wie nah liegt das, wie fern?
Im Grunde ist es keine Konfrontation von Bildwelten, kein mehr oder weniger gelungener kuratorischer Coup. Es handelt sich um eine sensible familiäre Zusammenführung. Gerhard Richters Serie wirkt wie eine distanzierte Totenklage, wie ein Memento Mori des 20. Jahrhunderts, und man sieht den „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich anders, wenn man Richter hier gesehen hat. Man betrachtet auch Richter neu, wenn man von Friedrich zurückkommt: Sie sind sich, getrennt durch zwei Jahrhunderte, nah. Der dunkle Himmel über der abgrundtiefen See, die Todeseinsamkeit der den Elementen ausgesetzten Person, die im nächsten Moment von der wirbelnden Finsternis verschluckt zu werden droht – um Friedrich wie um Richter ist eine schwer zu fassende, auch schwer zu ertragende Aura. Kann es sein, dass dieses „Stammheim“ schon so entrückt ist, so vergangen? Als sollte die Distanz noch deutlicher werden, ist der Zyklus um das abstrakte Bild „Decke“ ergänzt; eine Übermalung des Todes der Gudrun Ensslin.
Würde ist der entscheidende Begriff: in der Darstellung der Natur, im Festhalten des Grauens, der Leere. Ein Gott ist auf Friedrichs Bildern schon nicht mehr präsent, nur religiöse Relikte; ein dünnes Kreuz, eine Klosterruine. Gott ist in den Bildern Richters – wenn überhaupt – ein unbeteiligter, entfernter Beobachter, dem die Konturen verschwimmen. Doch was ein Akt der Gnade sein könnte, die Unschärfe, sie schärft den Blick. Das Erlebnis ist erschütternd.
Alte Nationalgalerie, bis 13. Mai 2012.
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