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Der Schriftsteller Martin Walser 2015. Im März wird er 89 Jahre alt.
© picture alliance / dpa

Martin Walser und sein Roman "Ein sterbender Mann": Schöner geht's nicht

Liebe kennt kein Alter, und auf den Tod kann man sich nicht vorbereiten: Martin Walsers neuer, mitunter komischer Roman "Ein sterbender Mann"

Nichts schöner, als gleich zu Beginn eines neuen Walser-Romans einen paradetypischen Walser-Satz zu lesen, einen bekannten Walser-Satz überdies: „Mehr als schön ist nichts“, so hebt er an, dieser Roman mit dem nicht ganz so schön sprechenden Titel „Ein sterbender Mann“, der wie schon Walsers 2012 veröffentlichter Liebesunmöglichkeitsroman „Das 13. Kapitel“, vorwiegend aus Briefen und E-Mails besteht. Allerdings schicken die Protagonisten nur die Mails alle ab – so mancher Brief ist von vornherein ein „unabschickbarer“, getreu der Devise der Hauptfigur dieses Romans, des 72 Jahre alten Theo Schadt: „Ich habe es immerhin geschafft, wirkliche Menschen nur noch schriftlich auftreten zu lassen“.

Es geht stilistisch schön kunterbunt zu in diesen Briefen, mit Gedichten, nummerierten Traumsequenzen und diversen, an Tagebucheinträge erinnernden Sentenzen. Doch eine gewisse höhere literarische Ordnung wollte Walser seinem unvollständigen Briefroman schon geben. Theo Schadt schreibt nämlich nicht nur an seine Ehefrau, „die Göttliche Iris“, an seine letztendlich eingebildete, ihn zumindest einmal leibhaftig wie einen Blitz treffende, mit einem „Lichtschwall“ eindeckende Geliebte Sina Baldauf sowie an eine Aster heißende Todessehnsüchtige in einem Online-Suizid-Form, sondern auch an einen gewissen „Herrn Schriftsteller“. Der bleibt namenlos, soll aber jenen „Mehr-als-schön-ist-nichts“-Satz „gesagt oder geschrieben oder gesagt und geschrieben haben“. Dieser Schriftsteller ist Theo Schadts „Selbstgesprächskulisse“, ein „Immer-noch-Veröffentlicher“, der zu denen gehört, „die alles so schön sagen, wie es nicht ist“ (noch so ein bekannte Walser-Satz) und der, das weiß Schadt anscheinend auch, „ja offenbar lieber interviewt als gelesen“ wird.

Es geht viel um Verrat, Dichtung, Alter und vor allem: die Liebe

So viel Selbstironie und Selbstparodie muss sein, so viel Autofiktion. Aber auch so viel formale Struktur über die erzählerlose Figurenrede hinaus: „Theo, ich versichere mich deiner! Erzähl du, was (dir) passierte“. Es beginnt also mit der Schönheit und dass Schadt sich nicht als gerade eben schön empfindet, alt, prognathisch-spitzkinnig, mausgesichtig wie er ist, wie er das in seinem ersten Brief an den Herrn Schriftsteller erläutert, einen Brief, der im übrigen sieben Postscripta enthält. Da kann man schon mal eine gewisse Todessehnsucht entwickeln, zumal er sich auch sonst „am Ende“ fühlt, er „gestürzt“ worden ist, beruflich, von seinem besten Freund deshalb das Einloggen in das Suizid–Forum.

Im folgenden ist von Schönheit nicht mehr viel die Rede, sondern von Verrat, Dichtung, Alter und, natürlich, Walsers Lieblingsthema, gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten, von der Liebe und ihren Möglich- und Unmöglichkeiten: von der unzerstörbaren, wie der zu der ewigen Ehefrau. Und von neu erblühenden wie der zu Sina Baldauf, wegen der Schadt seine Frau verlässt. Selbst wenn diese Liebe mehr nur eine theoretische, auf dem Papier bestehende, durch Korrespondent genährte ist. Einen der Briefe an Sina unterschreibt Schadt mit „Dein Irrealo“, nach Sätzen wie: „Ich darf sagen, wie sehr ich Sie liebe, weil daraus nichts mehr werden kann.“

Um diesen Liebeswirrwarr herum erzählt Schadt auch sonst noch so einiges. Zum Beispiel, dass er einst als Ratgeber-Autor und Chef einer Patententwicklungsfirma arbeitete und letztere jetzt insolvent ist, weil eben jener beste Freund, der Dichter Carlos Kroll, einen noch nicht abgeschlossenen Deal an seinen größten Konkurrenten verraten hat. Schadt erzählt von seiner Freundschaft zu Kroll und wie dieser einmal einen Preis des „Vereins für Gute Dichtung“ erhalten hat. Er erzählt, an was für Zipperlein er in seinem Alter so leidet, unter anderem ein Darmtumor, wie seine Iris und seine Sina dem Tango frönen; und gegen Ende liest er in seiner Korrespondenz mit Sina Baldauf noch lang und breit, wie diese die Spuren ihrer Herkunft in einem algerischen Dorf verfolgt.

Quatschigste Dissonanzen, hellste Dissonanzen

Viel Stoff, den Walser hier bearbeitet, aber mehr nach der Devise „reinwerfen, was da ist, was geht“. Und bisweilen fragt man sich: Meint er das alles wirklich ernst, was er seinen Figuren so aufbürdet? Soll das eine Groteske sein? Will er seine Leser gar auf den Arm nehmen? Allein die Namen der Firmen seiner Figuren: „Patente und mehr“, „Der Verschönerer“ oder „Terpsichore, Flitter & Co“, auch eine „Natalie Kurzohr“ hat einen Kurzauftritt. Es gibt Blondinen-Witze, „Nimm’s-mit-Humor“–Auftritte oder „Berichte an die Regierung“. Und ein früher komischer Höhepunkt ist die Preisverleihung an Kroll (auf der betont schlechte Gedichte genauso zitiert werden wie engagierte Walser-Lyrik) mit anschließendem Festessen. Dort versucht etwa der halbseitig gelähmte Dichtungsvereinspräsident, sich „Trüffelblättchen in den lahmen Mund“ zu schieben, oder es werden bei „Artischockenröllchen“ Unterhaltungen über „Nierensteinkoliken“ geführt.

Ein Roman der quatschigsten Dissonanzen, könnte man sagen, nicht der „hellsten“, wie der Klappentext behauptet, trotz aller Verrats- und Liebesdiskurse (Schadts Geliebte Sina entpuppt sich auch noch als Geliebte jenes Mannes, der ihn um seine Firma gebracht hat). Ja, „Ein sterbender Mann“ ist ein Roman, der manche Qual bereitet, weil er so satirisch vor sich hin stottert, der dann aber wieder wirklich komisch und radikal ist und vor allem ein Sprachkunstwerk, ein Sprachverschönerungskunstwerk, wenn man mit Walser will: Hier die vielen, wieder so typischen Walser-Komposita von „Verhinderungsfähigkeit“ über „Trostlosigkeitsglanz“ bis zu „Beliebigkeitsflittchen“, dort die vielen, noch typischeren dialektischen Walser-Sätze á la „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“.

Walsers Held schreibt auch ein Büchlein, das heißt "Ums Altsein"

Es schöner sagen als es ist, es schöner schreiben, als es sich gesprochen ausdrücken lässt, Walser zieht da noch einmal alle Register: „Ist denn das Unwahre richtiger als das Wahre, bloß weil es erlaubter ist oder so klingt?“. Oder: „Verstanden zu werden von jemanden heißt, einem anderen unverständlich zu werden“. Oder: „Alles wollend, lernst du das Mögliche kennen“. Und schließlich, das kommt von dem aufopferungsvoll seine Arbeit verrichtenden Schriftsteller: „Eine Mauer aus Wörtern gegen jede Art Wirklichkeit“.

Was in diesem Roman passiert, spricht natürlich seinem Titel „Ein sterbender Mann“ einigermaßen Hohn, trotz Theo Schadts Mailwechsel mit den „Suizidalen“, trotz seines Tumors, trotz der „Stürze“, des doppelten Verrats an ihm. Sterben tun hier andere. Der Romantitel korrespondiert viel mehr kokett mit Walsers 2008 erschienenen Goethe-Roman „Ein liebender Mann“

Genau von diesem liebenden Mann hat der Frühsiebziger Schadt eine Menge, von diesem Walser-Goethe, der damals schrieb: „Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin.“ Was wiederum zu der Frage führt: Wann lässt der dieses Jahr seinen 89. Geburtstag feiernde Walser endlich einmal das Liebesmausen? Wann lässt er Alter und Tod zu, wann setzt er sich damit gezielter auseinander, jenseits der Liebe?

Darauf gibt es tatsächlich eine Antwort, nämlich als Theo Schadt beschließt, keine Anleitungsbüchlein mehr zu schreiben, sondern etwas, „das heißen soll: Ums Altsein“. Es folgen wie in Walsers Tagebüchern und den „Meßmer“–Büchlein zwölf Seiten lang Gedanken und Sentenzen über Alter und Tod, Sätze wie „Geistige Vorbereitung nützt nichts. Also weiterleben, so tun, als sei man unsterblich“ oder auch: „Nichts zu sagen lernen ist schön“.

Das hat dann auf diesen Seiten – und ja, Walser bekommt den Roman noch zwingend dramaturgisch zuende – etwas von einem Vermächtnis. Und am Ende dieses Romans weiß man, dieses Mal nicht mit Walser, sondern mit einer abgewandelten Liedzeile der deutschen Indierockband Tocotronic: Es gibt nur schön oder unschön oder wie man sich fühlt.

Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Rowohlt, Reinbek 2016. 287 S., 19, 95€

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