Begegnung mit Intendant Jürgen Flimm: Schön ist’s im Schillertheater
Die Sanierung der Staatsoper wird zur Endlos-Saga. Aber Intendant Jürgen Flimm findet immer einen Grund zur Freude. Wir haben ihn in seiner Räuberhöhle im Schillertheater besucht.
Auf dem Flur vor dem Intendantenbüro stehen sechs Sessel, jeweils zu Dreiergruppen zusammengefasst. Elfenbeinfarben gestrichen das Holz der Rahmen, die Sitzflächen mit unzerstörbarem, rotem Kunstfaserstoff bezogen, an der geschwungenen Rückenlehne lassen sich Spurenelemente eines Goldrands erahnen. Als die Staatsoper 2010 nach dem Umzug der Künstler vom Musentempel Unter den Linden ins Charlottenburger Schillertheater die alte Bestuhlung an Nostalgiker verkaufte, sicherte sich auch Jürgen Flimm fürs Schillertheater ein halbes Dutzend Sessel, aus dem Parkett, Reihe 5. Im Neonlicht des fensterlosen Gangs wirken sie wie aus einer Bühnendekoration entnommen.
Wie lange es noch dauern wird, bis Intendant und Stühle zurück ins Stammhaus kehren können? Jürgen Flimm hat längst aufgehört, Prognosen abzugeben. Ab dem 3. Oktober dieses Jahres sollte laut der ursprünglichen Planung der Vorhang wieder in Mitte hochgehen. Zuerst wurde der Eröffnungstermin auf den Tag der Deutschen Einheit 2014 verschoben, derzeit lautet die Prognose: 2015. Festlegen will sich Senatsbaudirektorin Regula Lüscher aber erst im Frühjahr, wenn klar ist, ob die Bauarbeiten von einem harten Winter beeinträchtigt wurden oder nicht. „Bei uns im Haus glaubt keiner mehr daran, dass wir in zwei Jahren wieder Unter den Linden spielen“, sagt Jürgen Flimm. „Ich hoffe, die schaffen es bis 2016, habe aber keinerlei Hinweise, die mich zu dieser Hoffnung ermuntern würden.“ Dennoch präsentiert sich der Herr Intendant tiefenentspannt. „Eine Freundin von mir sagt immer: Keinen Vorschuss auf Zores!“ Was bedeutet, dass man einen Streit wirklich erst dann ausfechten soll, wenn er unvermeidbar ist.
Packt ihn nicht manchmal die Wut, wenn er an die Dauerbaustelle denkt, will er nicht toben, schreien? „Nein“, sagt Flimm. „Denn dadurch wird sich nichts, aber auch gar nichts ändern. Also haben wir uns geschworen, der Herr Generalmusikdirektor und ich: Wir regen uns nicht auf, wir planen auch keine festlichen Eröffnungsspielzeiten mehr. Wir machen eh immer schöne Sachen. Und wenn dann tatsächlich die Lindenoper fertig ist, machen wir die schönen Sachen eben nicht mehr im Schillertheater, sondern in Mitte. Und fertig ist die Eröffnung.“ Rein technisch soll das in der Tat so einfach vonstatten gehen können, wie es sich anhört: „Wenn es so weit ist, lässt sich jede Produktion, die wir hier herausgebracht haben, am Henkel nehmen und drüben hinstellen. Wir können direkt rüberspazieren.“
Hier wird strategische Kunst gemacht.
Jürgen Flimm sitzt in seiner Räuberhöhle, einer Art Berliner Zimmer im Ostflügel des Schillertheaters. Die Decke ist niedrig wie in einem Nachkriegsneubau, nur wenig Tageslicht fällt durch die Fenster herein, die direkt neben einer abknickenden Mauer liegen. Verglichen mit dem repräsentativen Chefzimmer im Intendanzgebäude Unter den Linden mit seinem edlen Parkettboden und den ausladenden Kristallkronleuchtern wirkt Flimms Büro im Ausweichquartier wie ein privates Wohnzimmer. Lediglich die Pinnwand über der Sitzgruppe verrät, dass hier strategisch Kunst gemacht wird: Bis zum Sommer 2017 reichen die Pläne, die Titel der Stücke sind auf gelben Post-it-Zettelchen notiert, damit Tosca, Carmen und Co. leicht hin und her verschoben werden können.
Aber nicht, weil die Bauleute dem Zeitplan hinterherhinken, sondern je nachdem, wann welcher Startenor, welche Diva oder welcher weltweit gefragte Regisseur verfügbar ist. Probleme, in der Ausweichspielstätte der Staatsoper aufzutreten, hat keiner von ihnen. „Placido beispielsweise singt sehr gerne hier“, sagt Flimm, „weil das Haus so schön intim ist. Die Akustik hat sich, entgegen allen Kassandrarufen, für Oper als bestens geeignet erwiesen. Die Nachhall-Verstärkeranlage, ohne die Unter den Linden nichts ging, ist hier fast immer abgestellt.“ Bei der Premiere von Verdis „Trovatore“ am 29. November wird Herr Domingo an der Seite von Anna Netrebko und Aleksandrs Antonenko singen. Alle Vorstellungen sind natürlich längst ausverkauft, so wie überhaupt das Publikum äußerst bereitwillig ins Schillertheater strömt. Ob die Stammgäste mitziehen würden, von Ost nach West, war Flimms größte Befürchtung. Es kam sogar besser als erhofft: „Wir haben jede Menge neue Besucher dazugewonnen. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, gerade weil wir ja in unmittelbarer Nachbarschaft zur Deutschen Oper spielen.“ Die Instandsetzung des Schillertheaters war eine Großtat von Klaus Wowereit, findet Flimm, dessen Engagement als Kultursenator er auch sonst gar nicht genug loben kann.
Dennoch schreibt sein Haus rote Zahlen, selbst wenn die Bude jeden Abend rappelvoll ist. Weil der Saal fast 400 Plätze weniger hat als die Lindenoper. Die vorausschauend gebildeten Rücklagen werden spätestens Ende 2014 aufgebraucht sein. Dann muss der Senat den Fehlbetrag zuschießen, bis zu vier Millionen Euro pro Saison. Flimm streicht mit der Hand über seine beigefarbenen Beinkleider: „Dann muss ich den Parlamentariern erklären, dass wir davon keine neuen Cordhosen kaufen oder das Geld in Kostüme stecken. Wir wollen nur die Löhne unserer Mitarbeiter bezahlen können."
Beschleicht ihn angesichts des vielaktigen Renovierungsdramas keine Amtsmüdigkeit? „Ach, watt! Bis Sommer 2017 will ich auf jeden Fall bleiben, wenn die Opernstiftung meiner Vertragsverlängerung zustimmt. Dann bin ich erst 76. Den Ehrgeiz, mit rüber zu ziehen, und dort noch eine Spielzeit zu residieren, habe ich schon!“, strahlt er. Und fügt hinzu: „Das habe ich auch verdient, nach all den Anstrengungen.“
Flimms größter Motivationsfaktor.
Flimms größter Motivationsfaktor ist die gute Zusammenarbeit mit Barenboim: „Wenn es mit Daniel nicht so eine Freude machen würde, wenn es hier Reibereien gäbe, wäre das was anderes.“ Gerade brüten die beiden die Idee aus, ab dem Frühjahr die Linden-Baustelle mit Konzerten und kleinen Aufführungen zu bespielen. Zur Steigerung der Vorfreude.
„Wenn man auf dem Dach des Opernhauses steht, sieht man auf der gegenüberliegenden Seite das Probenzentrum, auferstanden aus Ruinen“, erzählt Flimm. Damit meint er die Funktionsgebäude entlang der Straße „Hinter der katholischen Kirche“, wo neben den Büros der Theaterleitung auch neue, gegenüber dem Vorgängerbau deutlich verbesserte Säle für Chor-, Orchester- und Bühnenproben entstehen. „Das wird großartig!“
Wenn die Renovierung abgeschlossen ist, wird der Besucher von den verbauten 240 Millionen Euro (Flimm lacht), also von den 280 Millionen (Flimm kichert), also von der endgültigen Summe kaum etwas sehen. Die allermeisten Millionen nämlich stecken im neuen Fundament sowie im technisch ertüchtigten Bühnenhaus. „Das ist in der Tat ein Problem“, nickt der Intendant. „Da müssen wir der Fantasie der Zuschauer etwas auf die Sprünge helfen.“ Indem beispielsweise in den Foyers Videos gezeigt werden, die nachvollziehbar machen, was sich hinter den Kulissen alles verändert hat.
Und was soll aus dem Schillertheater werden, wenn die Staatsoper tatsächlich eines Tages auszieht? „Ein Tanzhaus natürlich!“, strahlt Flimm. „Das ist eine super Bühne dafür, weil Sie von jedem Platz ideale Sichtverhältnisse haben.“ Das Staatsballett könnte hier arbeiten, außerdem die bislang heimatlose Truppe von Sasha Waltz & Guests. Dazu dann noch ein paar Gastspiele internationaler Kompanien... Über die Kosten sollen sich dann ruhig andere den Kopf zerbrechen.