Kunst: Schmerz, Schrecken, Seligkeit
Inbegriff deutscher Kunst oder Genie aus Frankreich: Wer war der Naumburger Meister? Eine Ausstellung betreibt Spurensuche
Es ist, als erkläre man Shakespeare zum Amerikaner oder Heidi zum japanischen Nationalsymbol. Der Naumburger Meister – ein Franzose? Dass der Inbegriff deutscher Kunst, wie ihn das 19. und 20. Jahrhundert überliefert haben, eine ideologisch aufgeladene Fiktion sei, ist die Kernthese der herausragenden Landesausstellung im Naumburger Dom und an anderen Orten der Stadt, die die Spuren des Meisters konsequent über Ländergrenzen hinweg verfolgt. Kein Wunder, dass Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gern die Schirmherrschaft übernommen haben.
Sieht man in Naumburg nun einen Wasserspeier, dem das geschmolzene Blei des durch deutschen Beschuss 1914 in Brand gesetzten Kathedraldachs von Reims wie Tränen aus dem Mund fließt, sieht man Kapitellfragmente der Burg von Coucy, deren machtvoller Donjon als weltliches Pendant zur Sainte Chapelle galt und der ebenfalls im Ersten Weltkrieg zerstört wurde, oder liest man die nationalistischen Ausdeutungen von Uta als Schirmherrin deutscher Kultur, scheint eine solche Geste tatsächlich überfällig.
Die französischen Kunsthistoriker, die den Naumburger Meister lange Zeit als deutschen Epigonen unbeachtet ließen, haben sich mit Begeisterung und hochkarätigen Leihgaben an dem Vorhaben beteiligt. Man wünscht dem malerischen Naumburg in diesem Sommer nicht nur deutsche, sondern internationale Besucher. Einen derart schönen Anlass gibt es so bald nicht wieder.
Wie jener Künstler, von dem man weder Biografie noch Namen kennt, überhaupt zum Inbegriff alles Deutschen werden konnte, erklärt nur die nationalistisch verblendete Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Werke aber, die kennt man mit Namen, und sie sind so lebensvoll, dass man versucht ist, ganze Biografien in sie hineinzufantasieren: Die stolze Uta mit ihrem hoheitsvoll distanzierten Blick, ihr Ehemann Ekkehard, der wütende Syzzo und die selig lächelnde Reglindis – Generationen haben Geschichten von Liebe und Eifersucht, Mord und Totschlag um sie herumgesponnen.
In Film und Drama, Gedicht und Propagandabild lebte ihre Geschichte fort. So sehr, dass heutigen Wissenschaftlern beim Namen Uta durchaus die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn sie die Mischung aus wabernder Einfühlung und raunendem hohen Ton ihrer Vorgänger zitieren. Viel lieber hätte man wohl die „deutsche Frau“ und das ganze nationale und nationalsozialistische Brimborium um sie herum verschwiegen. Der Ausstellungsteil zur Rezeption wird im prachtvollen zweibändigen Katalog nicht ohne Grund nur gestreift.
Wie sehr der Uta-Mythos bis heute wirkt, lehrt die Eröffnung der Naumburger Ausstellung, bei der sich die Redner unermüdlich an der Ausdeutung ihres Blicks versuchen. Dabei, so zeigt es Ausstellungskurator Hartmut Krohm, braucht es nur eine kleine Verschiebung, und schon ist man das Dilemma los, in dem sich frühere Generationen mit ihrer Umdeutung der Meisterwerke internationaler Hochgotik zur urdeutschen Spätromanik befanden. Dass die Formensprache von Naumburg aus Frankreich stammt, daran gibt es nichts zu deuteln.
Die Ausstellung, mit grandiosen Leihgaben aus Reims, Amiens und anderen Kathedralen, führt es vor. Ja, sie zeigt mit Coucy und der Kathedrale von Noyon Beispiele, die stilistisch als frühe Werke des Naumburger Meisters gelten können. Auch das Blattwerk am Naumburger Lettner mit seiner Vielzahl regionaler Pflanzen, die im Domgarten nachgepflanzt wurden, hat französische Ursprünge.
In der zum Dombezirk gehörenden Marienkirche ist französische Bildhauerkunst vom Feinsten versammelt: eine berückend sinnliche Eva aus Reims, die Abgüsse des 1914 stark beschädigten Südquerhauses mit ihren emotional differenzierten Aposteln und Propheten sowie Vergleichsstücke aus Straßburg und Bamberg. Was für ein Quantensprung zu Beginn des 13. Jahrhunderts stattfand – dieser Raum macht es deutlich.
In den Kathedralbauhütten von Reims und Amiens fängt alles an. Was aber, fragt Krohm, wenn der Naumburger Meister kein deutscher Lehrling war, den es nach Frankreich verschlug, wo er bei den Meistern des Kathedralbaus lernte und deren Technik nach Deutschland importierte? Sondern umgekehrt ein französischer Bildhauer, der in Reims in die Lehre ging, erste Zeichen seines Könnens in der Picardie und in Lothringen hinterließ, bis der Mainzer Bischof Siegfried III. von Eppstein in Metz auf ihn aufmerksam wurde und ihn zur Vollendung seines Dombaus an den Rhein holte. Wobei, auch das ein Anliegen der Kuratoren, die Besonderheit der Naumburger Meisterwerkstatt darin lag, dass sie Architektur und skulpturalen Formenschmuck aus einer Hand plante.
So sind die Stifterfiguren direkt aus den tragenden Säulen herausgearbeitet und wirkungsvoll mit einem Kranz von Zwergsäulen und Architekturkapitellen gerahmt. Ob diese das Werk eines einzelnen Genies oder einer gut eingespielten Werkstatt war, erscheint angesichts neuer Funde zweitrangig: Im Westchor tauchte eine Vielzahl von Steinmetzzeichen und Ritzzeichnungen auf.
Mainz, Naumburg und Meißen sind die drei Orte, an denen die Spuren des Naumburger Meisters zu finden sind. In der Ausstellung werden sie im Dom einander gegenübergestellt. Die Stifterfiguren im Westchor und der grandiose Westlettner mit seinen ergreifenden Passionsszenen sind nicht zu verrücken, ebenso wie die Stifterfiguren des Meißener Doms, die daher als Abguss präsentiert werden. Der berühmte Westlettner aus dem Mainzer Dom aber, der den Naumburger Meister europaweit bekannt machte und wohl der Grund war, warum Bischof Dietrich II. ihn an die Saale holte, um den halb fertigen Dom zu vollenden, wurde 1681 demontiert. Nun wurden sie – schon das eine Sensation – nach Naumburg ausgeliehen. Ebenso Maurizius aus Magdeburg, der erste Mohr der Bildhauerkunst, der effektvoll in die Mittelachse des Kirchenschiffs gerückt wurde und einen selbstbewussten Gegenpol zur „deutschen“ Uta bildet.
So sieht man sie zentral platziert: hier den Zug der Seligen und die Verdammten aus Mainz, dort die Naumburger Passionsszenen. Einzigartig die Verlebendigung der Figuren, die Individualisierung, die Verkörperung von Schmerz, Schrecken oder Seligkeit. Diese lebensechten Miniaturszenen sind ein Charakterstudium direkt aus dem Lehrbuch der Pathognomik – der Kunst, Gemütsregungen aus Körperhaltung und Mimik abzulesen. Fast scheint es, als sei ein Bill Viola mit seinen Passions-Reenactments hier in die Lehre gegangen.
Für eine kurze Zeit nur, zwischen der stark normierten Romanik und der ins Überindividuell-Idealisierte schwenkenden Hochgotik wirft man hier einen Blick in die Lebens- und Gefühlswelt des 13. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass diese lächelnden, zürnenden oder trauernden Individuen die Betrachter über Jahrhunderte beschäftigt haben.
Wieso gerade in dem kurzen Zeitfenster zwischen 1230 und 1260 diese Individualisierung einsetzt, vermag auch die Ausstellung nicht zu erklären. Zorn und Lachen, Melancholie oder Stolz galten dem Mittelalter als Todsünden – man erinnere sich an die Verdammung des Lachens durch den blinden Jorge in Umberto Ecos „Der Name der Rose“.
Die Beschäftigung mit Affekten und Leidenschaften entsprang der Wiederentdeckung der Antike und der aristotelischen Schriften. Und es bedurfte gewagter theologischer Volten, um aus dem sündhaften Zorn einen ritterlich-gerechten Löwenmut oder aus der mit kranken Körpersäften erklärten Melancholie das Wesen des Künstlers zu machen. Reglindis’ seliges Lächeln wird zur christlichen Hoffnung auf Erlösung, Utas stolze Zurückhaltung zur höfischen Haltung schlechthin. Nicht jeder wusste das zu schätzen: Walt Disney nahm Uta als Vorbild für Schneewittchens böse Stiefmutter.
Naumburg, Dom und diverse Stationen in der Stadt, bis 2. November. Tägl. 10 bis 19, freitags bis 22 Uhr. Katalog (Michael Imhof Verlag) 49 Euro. Informationen unter www.naumburgermeister.eu
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