Eine Begegnung mit Marco Tschirpke: Schlaumeier tragen grau
Das muss ihm erst einmal einer nachmachen: Seine "Lapsuslieder" dauern höchstens eine halbe Minute - und sind eher poetisch als komisch. Marco Tschirpke ist der Intellektuelle unter den deutschen Klavierkabarettisten.
Sonntags vor fünf Jahren im Zebrano-Theater in Friedrichshain. Hausherr Sebastian Krämer moderiert den Club „Genie und Wahnsinn“. Gibt rabenschwarze Klavierballaden zum besten. Kündigt einen Menschen namens Marco Tschirpke an. Der entpuppt sich als Musikkabarettist mit jungenhaftem Lächeln und selten sprödem Liedgut. „Lapsuslieder“ nennt er die seltsamen Nummern, die so schnell vorbei sind, dass man kaum Zeit hat, nach der Pointe zu fahnden. Dann folgt ein aus einem Gedicht von Peter Hacks gewirktes Lied, dessen Lyrik Tschirpke, wie er sagt, im Gegensatz zu der von Günter Grass gerne vertont. Tschirpke geht ab, der bunte Abend weiter. Nur Tschirpke trägt grau. In zehn Minuten hat er dem Publikum massive Splitter ins Gehirn gehauen.
Freitags im vergangenen September in der Schweiz. Der Kulturverein Davos lädt im Gemeindezentrum der Evangelischen Kirche zum Gastspiel eines Klavierkabarettisten aus Berlin. Die höflichen Herrschaften müssen Hasardeure sein, sie haben sich ausgerechnet Tschirpke eingeladen. Er trägt schon wieder grau. Das ist Understatement mit System. 19 verwirrte Schweizer, eine verkappte Deutsche und ein schwarzes Piano stemmen sich gegen die Leere im Saal. Tschirpke ficht sie nicht an. Er traktiert das Piano, singt, scherzt, lächelt in fragende Mienen, unterbricht allzu voreiligen Applaus und bietet am Büchertisch todesmutig seinen neuen Gedichtband an.
Dieser Mann ist ist kein Künstler, der von Umarmungen lebt. Er will Distanz. Widerstand gegen die Überwältigungsstrategien der Welt und des Showgeschäfts mag zwecklos sein, doch das ist genau das, was er braucht. Dass die Schweizer ihm verhalten, aber respektvoll begegnen, gefällt ihm. Und dass sie ihn nur für einen Auftritt einfliegen und gut bezahlen, wie er hinterher erzählt, natürlich auch. „Das Publikum soll den Künstler da abholen, wo er steht“, findet Tschirpke.
Dienstags beim Dichter zu Hause. Vorm Fenster der schlichten Altbauwohnung grünt der Mai im Volkspark Friedrichshain. Privat trägt Tschirpke blau. Er sei ein Dichter, der eigene Texte vertone, stellt er klar, kein Liedermacher. Klavierkabarettist sowieso, das ja. Gedichte schreiben ist ein anderes Handwerk, sagt Tschirpke. „Der Text muss das Metrum – also Vers und Reim – in sich tragen.“ Sei zuerst eine Musik da, liefere die ja schon die Struktur. So leicht will Tschirpke es nicht haben. Auch wenn der 1975 in Rathenow geborene Märker gelernter Musiker ist. Tschirpke hat an der Folkwang-Hochschule Essen Musiktheorie und Klavier studiert. Mit eigenen Programmen ist er seit zehn Jahren unterwegs, ebenso lange auch in Berlin ansässig und inzwischen mit diversen Kleinkunstpreisen dekoriert. „Am Pult der Zeit“ heißt die neue Show, die Mittwoch im Mehringhof-Theater Premiere hat. Er hätte sie lieber „Dirty Kadenzing“ genannt, aber den Kenntnisse der Harmonielehre voraussetzenden Nonsenstitel wollte die Managerin nicht.
Zum freundlich kredenzten Leitungswasser, teilt Marco Tschirpke ungefragt Schmeicheleien aus. „Ziemliches Käseblatt, Ihre Zeitung.“ Na, schönen Dank auch, Herr Dichter. Da hilft als Notwehr nur die Bemerkung, dass man beim Lesen seines Bands „Gedichte“ ebenso wie beim Anhören des aktuellen Albums „Lapsuslieder 4“ leicht Migräne ob des sperrigen Stoffs und der eigenwilligen Metrik bekommt. Tschirpke lacht. Jetzt steht’s eins zu eins. Er ist ein Schlaumeier, der Provokationen sucht und braucht.
Und dass er die Welt von oben betrachtet, hat mit seiner Verehrung des wegen seiner politischen und ästhetischen Überzeugungen gehassten und geliebten Schriftstellers Peter Hacks zu tun. Der war auch Ossi, links und extrem formbewusst. Marxist sei er zwar keiner, sagt Tschirpke, der Kapitalimuskritik so lächerlich findet wie das Kritisieren eines Wolfs, aber er sei Hacksianer. Was das heißt? „Ist eine Ästhetik“, doziert er. „Die Voraussetzung meiner Produktion ist eine grundsätzliche Uneinverstandenheit. Ich duze mich nicht mit dieser Gesellschaftsordnung. Aber ich beherrsche mein künstlerisches Material.“ Womit er eben Harmonielehre und Metrik meint.
Hacks hat er als Kind gelesen, aber dann erst in den 90ern beim Studium in Essen wiederentdeckt. Da lehrte der linke Liedermacher Dieter Süverkrüp, Poesie und bei einem Workshop in dessen Wohnung lag ein Essay-Band von Hacks herum. Seitdem teilt Tschirpke die Haltung, die Hacks’ im Gedicht „Einem Vermittler“ beschrieb. Tschirpke hat es auf seinem Album „Der Himmel ist voll Dampf“ als jazzigen Klaviersturz mit einer im Honecker-Falsett gesungenen Pointe vertont: „Den Gruß zurück / Und Dank für ihr Bemühen / Doch tut mir leid / Ich handle nicht mit Kühen.// Hier ist Berlin / Nicht Neustadt an der Dosse / Ich bin ein Dichter / Und kein Zeitgenosse.“
Apropos Pointe. Dieses für Musikkabarettisten eigentlich unverzichtbare Stilmittel mag Tschirpke nicht. „Ich langweile mich mit Pointen“, sagt er. Und dass Witze niemals abendfüllend seien. Wenn er irgendwo hingeht, möchte er etwas Neues erfahren, nie nur unterhalten werden. Getreu seinem Credo: „Du sollst das Publikum nicht unterfordern, das ist ein Verbrechen.“ Das ist sicher der Grund dafür, warum er die musikalische Form Lapsuslieder erfunden hat. Wer sich da nicht wie verrückt auf den Punkt konzentriert, ist draußen. So wie in der Ballade „Das Kleid“. Der eine halbe Minute kurze Song geht so: „Ich hatte dir ein Kleid gekauft. Sagte, wenn du’s trägst, mich freut’s. Du trugst es noch am selben Tag – zum Roten Kreuz.“ Ein tolles Lied. Gerade wegen der für schlichtere Gemüter vom Dichter gnädig angefügten Pointe.
Natürlich misstraut Tschirpke auch dem Refrain und dem Applaus. „Ich habe einen körperlichen Widerwillen, wenn ich eine Zeile zweimal singen muss – die Aussage ist doch längst getroffen.“ Und was das Lebenselixier des Künstlers – den Applaus – angeht, murrt er. „Der macht vieles kaputt. Eigentlich ist das ein furchtbares Geräusch.“ Deswegen grätscht er auf der Bühne auch ständig dem frohgemut drauflos klatschenden Publikum in die fahrlässig für legitim gehaltene Sympathiebekundungen.
So langsam drängt sich die Frage auf, was einer wie er eigentlich in der Unterhaltungsbranche will. „Berechtigte und sympathische Frage“, antwortet er. „Weil ich das, was ich mache, nur im Musikkabarett machen kann.“ Na, bitte: Die Kleinkunst ist der Spielplatz der Hacksianer.
Mehringhof-Theater, Gneisenaustr. 2a, Kreuzberg, 15.-18.5., jeweils 20 Uhr
Gunda Bartels
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