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„Ich bin nicht hübsch“: Das sagt die Performerin Angélica Liddell von sich selbst. Aber was für ein herrliches Pferd! Foto: Fieguth
© Joachim Fieguth

"Foreign Affairs" der Berliner Festspiele eröffnet: Schimmel und Hölle im Berliner Festspielhaus

Anne Teresa de Keersmaeker tanzt, Angélica Liddell wütet: Das neue Sommer-Festival „Foreign Affairs“ beginn mit Wechselbädern der Gefühle - und sportlich auf einer Hüpfburg

Die bange Frage steht im Raum: Wer wird den ersten Hüpfer wagen? In der Lokhalle im Natur-Park Schöneberg hat der Choreograf William Forsythe sein „White Bouncy Castle“ aufgebaut. Mit Luftsprüngen soll das Festival „Foreign Affairs“ eröffnet werden, wünschte sich der neue Leiter Matthias von Hartz. Er springt in die Bresche. Ein Festivalchef ist eben auch der oberste Animateur. Doch hier schwingt man sich erst mal zu einer Meta-Ebene auf. Bei Forsythe werde der Tanz demokratisiert, das sei doch eine „zauberhafte Idee“, findet Festspiele-Chef Thomas Oberender. Schön formuliert, aber ziemlich hochgegriffen.

Das versammelte Kulturvolk teilte sich bald auf: in die Hüpfverweigerer, in die Ich-mach-alles-mit-Hopser und in die Hurra-Springer. Das Vergnügen ist nicht ohne Anstrengung zu haben, darin ähnelt die Hüpfburg dem zeitgenössischen Theater. Zudem macht die körperliche Erfahrung deutlich, wie sehr wir auf die Mitmenschen angewiesen sind. Alle müssen hier auf schwankendem Grund fortlaufend eine Balance finden.

Mit einem Sightseeing-Bus wurden die Hüpfer ins Haus der Berliner Festspiele gekarrt. Tout Berlin ist herbeigeströmt, von Ferienschlendrian keine Spur. Auch hier wird der Wille spürbar, alles anders zu machen. Sogenannte architektonische Interventionen werden begutachtet. Es ist auch schon das erste Wetthäuschen aufgebaut. Das Thema „Wetten“ ist als Brückenschlag zur Ökonomie gedacht. Ihm wird ein langes Zocker-Performance-Wochenende gewidmet.

Im krassen Kontrast zur Hüpfburg steht der Hauptact des Abends. Anne Teresa de Keersmaeker und Boris Charmatz laden mit der Bach-Choreografie „Partita 2“ zu einem Gipfeltreffen im Tanz. Die Flämin und der Franzose sind nicht nur gefeierte Choreografen, sondern auch herausragende Performer. Nun kann man sie erstmals zusammen auf der Bühne erleben. Es ist mehr als eine Affaire. Die beiden haben sich über einen Zeitraum von zwei Jahren immer wieder getroffen, um Bachs Partita Nr. 2 für Violine in Tanz zu übersetzen.

Der Abend beginnt mit einer Verbeugung vor dem Komponisten. Die französische Barockgeigerin Amandine Beyer, die auf ein authentisches Klangbild spezialisiert ist, spielt die Partita zunächst im Dunklen. 27 Minuten der Sammlung und der Innerlichkeit werden den Zuschauern verordnet. Dann betreten die beiden Tänzer im Halbdunkel die Bühne, es bleibt still, während sie ihr Material ausbreiten. Die Bewegungen sind bewusst einfach gehalten, sie wirken unpoliert, ein bisschen rau. Der wohldurchdachten Ordnung von Bachs Partitur wird ein Hauch von Unordnung gegenübergestellt. Was sich ganz offenkundig dem Faible der beiden für das Improvisieren verdankt.

De Keersmaeker ist dafür berühmt, dass sie das Verhältnis von Musik und Tanz immer wieder neu auslotet und dabei verschiedene Strategien entwickelt hat. In „Partita 2“ nähert sie sich Bach auf doppelte Weise an. Der Tanz leuchtet einmal die ausgeklügelte Architektur der Partitur aus, doch es bleibt genug Raum, um direkt und mit physischem Überschwang auf die Musik, eine Suite stilisierter Tänze, zu reagieren.

Das Wechselspiel aus Struktur und Emotion, aus Analyse und Intuition ist charakteristisch für den Tanz. Fast schon intim wirkt die Begegnung der beiden Performer. Auch wenn sie den Hut aufhat als Choreografin, darf er doch seinen Eigensinn einbringen. Mal synchron, mal kontrapunktisch bewegen die beiden sich in einem geometrischen Raumdesign.

Die Musik wird zunächst mit simplen Schritten ausgemessen. Das Laufen im Kreis, das Hüpfen und Springen, Drehen und Schlenkern wird interpunktiert mit alltäglichen oder expressiven Gesten. Sie lädt ihn sich auf den Rücken und trägt sein Gewicht, sie zieht ihn hoch, während sie zu Boden sinkt. Sie lässt sich von ihm wie ein Uhrzeiger bewegen. So geerdet dieser Tanz auch ist; immer wieder richten die Tänzer den Blick nach oben. Bach begegnen die beiden nicht mit übertriebener Devotion – zum Glück. Doch stellt sich bald ein Hochgefühl ein, auch wenn das Duo bisweilen wie eine Kompositionsstudie anmutet.

Und gleich wieder Kontrastprogramm. Die spanische Extrem-Performerin Angélica Liddell schreit in „Yo no soy bonita“ (Ich bin nicht hübsch) ihre Wut und Verzweiflung heraus und trinkt dazu Unmengen Bier. Der Furor, mit dem sie über die „Scheißmänner“ schimpft, ist anfangs noch witzig. Der Schimmel auf der Bühne ist Sinnbild für Schönheit und Reinheit – und phallisches Begehren. Stoisch erduldet das Pferd die szenischen Exzesse der schwarz verhüllten Performerin. Wenn sie sich selbst die Knie aufritzt und das Blut mit einem Stück Brot aufwischt, wenn sie sich mit kochender Milch die Finger verbrennt, wirkt sie wie eine Light-Version von Marina Abramovic. Doch es ist beklemmend, wie sie mit quälenden Details vom Missbrauch neunjähriger Mädchen in einer Kaserne erzählt und sich dabei mit verführerischen Gesten dem Pferd nähert. Die Scham und das Schweigen zu überwinden, darum geht es Liddell.

Nach dem Hüpfburg-Spaß und dem Bach-Hochgefühl endet der Eröffnungsabend im Tal der Schmerzen.

„Partita 2“ noch einmal am heutigen Sonnabend, 20.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

Sandra Luzina

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