Zum Tod von Pete Seeger: Sag mir, wo die Lieder sind
Musik galt ihm als konkretes Mittel zur Weltverbesserung. Mit 94 Jahren ist Pete Seeger, Folk-Sänger und Song-Sammler, in New York gestorben.
Manchen galt er als Großvater des linken Protestsongs, anderen als konservativer Feind der Popmusik. Wieder andere verspotteten Pete Seeger als den Jugendherbergsvater des Pop. Wer jemals auf Klassenfahrt, Konfirmandenfreizeit oder im Pionierlager an einem Lagerfeuer saß, der wird auch ein Pete Seeger-Lied einmal mitgesummt haben. Sag mir, wo die Blumen sind. Diese Zeilen mit ihrem simplen Refrain sind in vielen Nationalsprachen so sehr zum Allgemeingut geworden, dass kaum jemand mehr ihren Urheber kennt. Andere Lieder haben sich auf die gleiche Weise verselbständigt. „Kisses Sweeter Than Wine“. „ If I Had A Hammer“.
Trini Lopez und die Byrds haben sie intoniert, Joan Baez und Marlene Dietrich und natürlich Bob Dylan. Musiker, die bessere Stimmen oder modernere Instrumente ihr eigen nannten als der stets etwas linkisch wirkende bärtige Hüne Pete Seeger mit seinem seltsamen Instrument. „Ein riesiger Ex-G.I., der aussieht wie ein Teleskop“: Mit diesem etwas schiefen Bild beschrieb der „New Yorker“ 1946 den 1919 in Manhattan geborenen Debütanten, der damals mit seinem Banjo als Amateur durch die New Yorker Nachtclubs tingelte.
Das Banjo war in etwa so modern wie Opas Wandergitarre; ein dezidiert anti-urbanes Instrument, das auf Barnyard Dances und in den Saloons des mittleren Westens schepperte. Seeger hatte Forschungsreisen in die Baumwollstaaten und den Dust Belt des mittleren Westens unternommen um von halb vergessenen und ganz unbekannten Musikern wie Rufus Crisp das korrekte Fingerpicking zu erlernen. Von diesen Begegnungen berichtete er in emphatischen Artikeln, mit denen sich der Sohn eines Musikwissenschaftlers selbst den Status des Authentischen zu verleihen suchte, wie vor ihm schon Woody Guthrie und nach ihm Robert Allen Zimmerman, der zu Bob Dylan wurde. Seeger aber war es, der das fünfsaitige Instrument vom Staub der Prärie befreite und salonfähig machte.
Ausgerechnet Pete Seeger wurde anti-amerikanischer Umtriebe beschuldigt
Öfter noch als in Clubs ertönten Seegers Lieder auf den Bühnen der Gewerkschaftsbewegung und in den Zirkeln der Sozialisten. Diese Nähe zur politischen Linken brachte ihn 1955 zum Verhör vor den berüchtigten Ausschuss des fanatischen Senators McCarthy. Seeger verweigerte damals die Aussage. Das Resultat: 17 Jahre Auftrittsverbote und Boykott der Rundfunkstationen. Seeger trotzte dem Verbot und blieb sich treu.
Dass ausgerechnet der Mann, der für die Library of Congress in Washington eine Sammlung amerikanischer Volksmusik kuratierte, anti-antiamerikanischer Umtriebe beschuldigt wurde, klingt aus heutiger Perspektive wie ein Treppenwitz der US-Geschichte. Im Geiste stets ein Union Singer, betrieb Seeger sein musikalisches Engagement wie einen Feldzug für die populäre Musik - und gegen den Pop. Das Böse wohnte für ihn an jenen Orten, die für ganze Systeme standen: Hollywood und Broadway.
Kaum eine Anekdote illustriert den heiligen Ernst besser, mit dem damals um Formen gestritten wurde, als die berühmte E-Gitarren-Kontroverse des Jahres 1964. Auf dem Newport Folkfestival hatte Bob Dylan zur E-Gitarre gegriffen und war daraufhin ausgepfiffen worden. Auch wenn Berichte, denen zufolge Seeger eine Axt geschwungen haben soll, um das elektrische Kabel zu kappen, als Erfindung zurückgewiesen wurden, so hatte sich dennoch ein Graben aufgetan. Die Folk-Bewegung trotzte der als Modernisierung empfundenen Elektrifizierung der Musik so erbittert wie sonst nur die kulturkonservative Musikkritik.
Im East Village der 50er Jahre trug man Bärte, schlug Bongos und sang Lieder von Pete Seeger
Lieder galten Seeger als ein Mittel zur konkreten Weltverbesserung. „Wir können nicht warten, bis MGM und NBC einen Song wie ‚Listen, Mr. Bilbo' in allen Ecken das Landes bekannt machen“, schrieb er in einem seiner kämpferischen Essays, „dies müssen wir schon selber machen“. Das Verwenden der dritten Person Plural war symptomatisch für einen, der sich nicht als Einzelkämpfer auf dem Weg nach oben in die Charts verstand, sondern das Sprachrohr einer breit aufgestellten Bewegung sein wollte. Und diese Bewegung formierte sich. Im East Village der Fünfzigerjahre, wo man Bärte trug und Bongos schlug und dazu die Gedichte Allen Ginsbergs las, sang man bald auch die Lieder Seegers. Sie erklangen in der Bürgerrechtsbewegung, die für die Abschaffung der Apartheit demonstrierte. Man sang sie in den Bussen, in denen weiße und schwarze Bürgerrechtler gemeinsam die rassistische Sitzordnung ignorierten, die Afroamerikanern die schlechten Plätze zuwies und dafür mit den Gummiknüppeln der rassistischen Provinz-Sheriffs und den Schlägertrupps des Ku-Klux-Klan Bekanntschaft machten: „We Shall Overcome“.
Eine neue Aufführungspraxis fand die Folk-Szene im Hootenanny. Das Slangwort für ein undefiniertes Ding wurde zum Titel für eine neue Art von Liederabend, der halb privat und halb öffentlich die Frontstellung zwischen Star und Publikum aufhob. Sänger und Zuhörer sitzen gemeinsam auf der Bühne, Mitsingen erlaubt. In der Bundesrepublik praktizierte man das gemeinsame Singen auf den Chanson-Festivals der Burg Waldeck im Hunsrück. Auch die DDR ließ sich von Seeger inspirieren. Ein „Folksong-Festival“ wurde kurzfristig verboten und als „Volkslied-Festival“ wieder erlaubt. Der „Oktoberklub“ startete im Geiste Seegers ein Anti-Pop-Programm um das aus Liverpool herüber wehende Yeah-Yeah zu verdrängen, mit wenig Erfolg. Die DDR-Hootenanny-Bewegung blieb weitgehend systemkonform unter dem Dach der FDJ, während sich mit den bärtigen „Bluesern“ abermals eine staatsferne musikalische Jugendbewegung formierte, die aus der amerikanischen Volksmusik eine eigene Form von Authentizität zu destillieren suchte.
Den Kampf um den korrekten Klang des Gegenwartssongs des 20. Jahrhunderts hat zweifellos Bob Dylan mit seiner E-Gitarre gewonnen. Die Lieder von Pete Seeger waren lange Jahre in die Jugendzeltlager verbannt. Seit einigen Jahren aber klingen die Songs der jungen bärtigen Männer, die in den Lofts von Williamsburg wieder zur Akustik-Klampfe greifen und die Resultate auf Youtube stellen, vielfach wie Hommagen an den Ahnherrn des Unplugged-Stils. Der in Würden gealterte Meister selbst spielte unterdessen auf den Bühnen ehrwürdiger Konzerthäuser wie der Carnegie Hall oder im Madison Square Garden.
Seinen Auftritt zum Amtsantritt des ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA darf man nicht nur als späte Genugtuung verstehen, sondern auch als eine weitere Erfüllung jenes musikalischen Traumes, den wir alle einmal singend mitträumen durften, und sei es aus der Retrospektive: „We Shall Overcome Some Day“. Am Montag starb in einem New Yorker Krankenhaus im Alter von 94 Jahren der Archivar des amerikanischen Liedgedächtnisses, das auch das unsere geworden ist.
Bodo Mrozek
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