Jesus and Mary Chain in Berlin: Ritt auf der Lärmwelle
Ein Fall für Nostalgiker: Jesus and Mary Chain spielen im Huxleys ein verdammt lautes Konzert.
Die Frage hat natürlich ihre Berechtigung: Warum sieht man sich im Jahr 2017 eine Band an, die schon zu ihrer Hochphase vor dreißig Jahren für ihre legendär schlechten Auftritte berüchtigt war? Die Konzerte der schottischen Feedback-Schöngeister von Jesus and Mary Chain, die im Wesentlichen aus den Brüdern Jim und William Reid bestehen (anfangs am Schlagzeug unterstützt vom späteren Primal-Scream-Frontmann Bobby Gillespie), dauerten im Schnitt keine zwanzig Minuten und waren ein Frontalangriff auf das Publikum – aber auch ein Akt der Selbstzerfleischung der streitbaren Brüder, die ihre Meinungsverschiedenheiten teilweise bis aufs Blut austrugen. Ihre Eskapaden brachten der Band einen zweifelhaften Ruf ein, was dem Mythos nur förderlich war, auch weil ihre sporadischen Alben, die honigsüße Melodien in schroffen Gitarrenlärm betteten, stets die Hoffnung nährten, die Reids würden irgendwann doch erwachsen werden.
Es war dann wohl auch diese Hoffnung, die am Montagabend über 1000 Fans ins ausverkaufte Huxleys lockte, um dem unverhofften Comeback von Jesus and Mary Chain beizuwohnen. Erleichtert wurde die Entscheidung durch ein tolles neues, wenn auch etwas nostalgiebeflissenes Album mit dem sprechenden Titel „Damage and Joy“, ihrem ersten seit zwanzig Jahren. Und könnte man die frivole Autoerotik von in statischer Schönheit erstarrtem Krach und den masochistischen Psychokriegen der Reids, die beiden wohl hervorstechendsten Merkmale von Jesus and Mary Chain, mit nur zwei Wörtern besser beschreiben?
Museale Aufführung der alten Hits
Das Berliner Publikum hat sich anscheinend auf einen Nostalgietrip eingestellt. Im Gegensatz zur zweiten Generation von Shoegaze-Bands wie My Bloody Valentine, Ride und Slowdive lässt sich im harten Fankern von Jesus and Mary Chain keine nennenswerte Verjüngung feststellen. Ganz sicher spekuliert hier auch niemand auf die Wiederaufführung eines jahrzehntealten Bruderkriegs. Man will bloß endlich zu hören kriegen, worauf einige im Publikum offensichtlich dreißig Jahre lang gewartet haben: eine werkgetreue Präsentation ihrer größten Hits, im Vortragsmodus zwischen konzertant und museal, aber vor allem: brachial laut.
Und das wird es, auch wenn eine andere missliebige Eigenschaft der Band die euphorisierende Wirkung ihres wall of sound hin und wieder schmälert. Sänger Jim Reid bewegt sich reichlich unambitioniert über die Bühne, während William an der Gitarre zwar viel Druck, aber wenig Emphase erzeugt. Jesus and Mary Chain haben ihre Fans nicht lieben gelernt, das Konzert wirkt anfangs noch pflichtbewusst. Aber die ersten Songs geben gleich die Richtung vor, die „Damage and Joy“-Tour ist auch als Werkschau zu verstehen.
Cool auch ohne Sonnenbrille
Mit „Amputation“ vom neuen Album eröffnen sie die Show, das warme Gitarrenrauschen klingt beruhigend und vertraut. Es folgen ohne Ansagen das melancholische „April Skies“, die TeenageRock-Hymne „Head On“ und die dengelige Rave-Nummer „Far Gone and Out“. Vier Songs, vier Alben – gut durchmischt bleibt das Programm bis zum Schluss. Es dauert fast eine dreiviertel Stunde, bis sie den ersten Song von ihrem Debüt „Psychocandy“ spielen, das Britpop-Fans Mitte der Achtziger vor die Gewissensfrage stellte: Smiths oder Jesus and Mary Chain? Irgendwann um diesen Moment herum scheint die Band dann zu erwachen.
Jim Reid ist auch ohne Sonnenbrille der coolste Rock’n’Roll-Sänger der Welt. Gischtzart surft seine helle, kräftige Stimme auf den Wellenkämmen, die ihm sein Bruder errichtet. Man kann sie sich auch gut als Wiedergänger der Beach Boys vorstellen, mit ihrer Mischung aus Gesangsharmonien (in Berlin mit weiblicher Begleitung) und flächigen Gitarrenakkorden. Und gibt es von den Reids nicht das Stück „Kill Surf City“? Das Finale ihres anderthalbstündigen Sets leiten sie allerdings mit „I Hate Rock’n’Roll“ ein, ein Witz natürlich. Da sind Jesus and Mary Chain schon ungefragt für eine zweite Zugabe auf die Bühne zurückgekehrt. Am Schluss wird die Pflichtübung doch noch zur großen Kür.
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