Interview mit Philip Scheffner: „Richtig hinsehen, das gilt es auszuhalten“
Philip Scheffner zeigt zwei Filme im Forum der Berlinale. Ein Gespräch über den westlichen Blick auf Flüchtlinge und Minderheiten.
Herr Scheffner, ein Schlauchboot mit Flüchtlingen, gefilmt von einem Kreuzfahrt-Touristen: Ihr Film „Havarie“ besteht nur aus dieser einen Aufnahme. Eine Chiffre für unsere Gegenwart?
Wir haben die Bilder vor zwei Jahren zufällig auf YouTube gefunden. Sie erinnern an all die bekannten Bootsflüchtlingsbilder, unterscheiden sich aber auch deutlich davon. Es ist kein journalistisches Bild, erzählt keine Geschichte über Hilfsbedürftige, es gibt keine Arme, die einem entgegengestreckt werden. Da ist einfach nur ein Schlauchboot mit Menschen, das still daliegt. Dann hebt sich eine Hand und jemand winkt. Das Bild hat eine unheimliche Offenheit.
Was hat Sie dazu gebracht, die dreieinhalb Minuten des YouTube-Videos auf Spielfilmlänge zu dehnen?
Wir fanden auch die Dramaturgie faszinierend. Jemand schaut offenbar auf das Boot, aus erhöhter Perspektive, die Blickwinkel kreuzen sich. Dann weitet sich der Blick, nirgendwo ist Land, nur das Meer, ein blaues Nichts. Schließlich dieser unglaubliche Schwenk: Man ist auf einem Kreuzfahrtschiff, hier filmen auch andere das Schlauchboot. Und die Kamera schwenkt wieder zurück aufs Boot. Ein furchtbares Bild, aber es steckt auch große Schönheit darin.
Sie haben recherchiert, Interviews geführt, unter anderem mit dem Touristen, der das Handyvideo drehte, Terry Diamond. Nichts davon ist in „Havarie“ zu sehen, man hört all das nur auf der Tonspur.
Das haben wir sehr spät entschieden. Wir hatten Terry Diamond in Belfast kontaktiert, dann sprachen wir mit dem Kapitän des Schiffs, mit Flüchtlingen in Frankreich und Algerien, drehten auf einem Containerschiff, in Spanien mit der Seenotrettung, es waren über 30 Drehtage. Als wir schließlich mit unserem tollen Material am Schnittplatz saßen, hatte sich die Repräsentation von Flüchtlingen in der Öffentlichkeit grundlegend geändert. Schon vorher, als es noch kein Medienthema war, ertranken Tausende im Mittelmeer. Aber jetzt waren diese Bilder jeden Tag im Fernsehen. Die Gewöhnung veränderte unser Bild, es wurde eine Art Platzhalter …
… ein Schnittbild …
... zumal auch die Medien auf das Phänomen der Gewöhnung reagierten. Überall wurden jetzt Menschengeschichten erzählt. Das ist gut und richtig so, aber die Menge an Geschichten schiebt sich leicht vor die politische Auseinandersetzung. Man ist betroffen, identifiziert sich, aber dass man selbst sicher in Berlin sitzt und was das eine womöglich mit dem anderen zu tun hat, bleibt ausgeblendet. Die Dramatisierung eines Einzelschicksals birgt die Gefahr der Entpolitisierung in sich.
Wird deshalb in Ihrem zweiten Forums- Beitrag „And-Ek Ghes“ über den Alltag einer Roma-Familie in Berlin der Familienvater zum Ko-Regisseur?
Nein, das hat eine andere Vorgeschichte. Coloradu Velcu kannten wir bereits aus „Revision“ von 2012. Er ist der Sohn des 20 Jahre zuvor an der deutschen Grenze erschossenen Grigore Velcu, ein Fall, den wir im Film aufrollten. Wir kannten uns übers Filmemachen, also führten wir unser Gespräch wieder mit der Kamera, als er nun mit seinen Kindern nach Berlin kam. Ich habe die Kamera nicht aus Gründen der Authentizität an ihn weitergegeben, sondern weil ich herausfinden möchte, wie man Augenhöhe herstellt, Respekt, jenseits des Gutmenschentums, das sich oft bei Reportagen findet. Die Grundfrage lautet: Wie kann man Hierarchien hinterfragen, zeitweise vielleicht sogar auflösen?
Warum ist es so wichtig, dass wir uns im Zeitalter der Smartphone-Videos beim Sehen zusehen?
Es ist generell wichtig, nicht nur, weil es leicht geworden ist, selber Bilder herzustellen und zu verbreiten. Schon deshalb ging es mir bei Coloradu Velcu nicht darum, die Kamera weiterzugeben. Der braucht mich nicht, um seine Bilder zu veröffentlichen, das macht er auf YouTube. Wir wollten vielmehr gemeinsam etwas herausfinden: Wie will man gesehen werden, welche Erwartungen und Ressentiments existieren, wann entsteht eine Narration?
Man sieht das im Film: Die Familie diskutiert mit Ihnen über die Bilder.
Welche Szene gefällt wem, was kann raus, was hat Aussagekraft, vertrauen wir einander? Es gehört großes Vertrauen dazu, so viel von sich preiszugeben, bis hin zum Tagebuch, das Coloradu Velcu im Film in Auszügen vorträgt. Und ich vertraute ihm umgekehrt im Schneideraum. Denn wenn die Familie Romanes redet, kann ich nur ahnen, was gerade verhandelt wird. Ich denke, es geht um Probleme mit dem Jobcenter, aber sie reden gerade über die Schönheit der Museumsinsel!
In „Havarie“ sind Bild und Ton voneinander losgelöst, Ihre Kreuzberger Produktionsfirma Pong nennt sich eine „Plattform für Text, Ton und alles, was dazwischenliegt“. Was ist damit gemeint?
Wir möchten mit Filmen Raum schaffen. Fürs Nachdenken, für Aufmerksamkeit, für eine andere Zeitlichkeit wie den sehr langsamen Kosmos in „Havarie“. Es geht darum, sich in ein Verhältnis zur Realität zu setzen. Unser Blick ist ja verstellt, durch Vorbilder, Vorurteile, durch all die unendlich vielen Bilder, die unterwegs sind. Vielleicht ist das die Aufgabe von Kino: Indem ich ein Ticket kaufe, erkläre ich mich dazu bereit, mich 90 Minuten lang nur diesen ganz spezifischen Bildern auszusetzen. Und nicht wie bei einem YouTube-Film auch noch meine Mails zu checken, während im Hintergrund auch noch das Radio läuft.
Gemeinsam mit der Autorin Merle Kröger und anderen beschäftigen Sie sich seit Jahren mit Bildern von Geflüchteten. Wie nehmen Sie die jetzige Flüchtlingsdebatte wahr?
Mir fällt auf, dass die Medienöffentlichkeit verschiedene Stadien durchläuft, von der großen Empathie bis zur enttäuschten Erwartung. Vieles kommt mir bekannt vor: Vokabeln wie die „Flüchtlingsflut“, die „Spiegel“-Titel oder die Debatten über ausländerfeindliche Ausschreitungen gab es schon in den Neunzigern, bei Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Selbst die Fokussierung auf die „kriminellen“ Schlepper wiederholt sich: Man zerstört die Boote der bösen Schlepper, aber dass es die Boote der Flüchtlinge sind, wird unterschlagen. Was sich geändert hat, ist die Selbstrepräsentation von Geflüchteten. Anders als in den Neunzigern gibt es heute zahlreiche sehr gute selbst organisierte Interessengruppen, die sich zu äußern verstehen, die Forderungen stellen. Aber sie tauchen in der Öffentlichkeit nicht auf. Man führt lieber weiter das Gespräch über sie, statt mit ihnen. Das irritiert mich.
Man kann sich doch kaum retten vor authentischen, selbst erzählten Fluchtgeschichten in den Medien.
Als Individuen haben sie eine Stimme, das ja. Aber nicht als Gruppe, als politisches Gegenüber und ebenbürtige Debattenteilnehmer. Ich verstehe das nicht: Die Leute sind doch da, sie können meist sehr gut Englisch, sprechen für sich selbst, man braucht sie nur ernst zu nehmen. Früher brauchte man uns Filmemacher neben den Journalisten vielleicht als Vermittler. Wenn wir heute politisch tätig werden wollen, haben wir eine andere Aufgabe: die Auseinandersetzung mit der eigenen Position.
Das heißt konkret?
Das Herstellen von Bildern wird unwichtiger. Es sind schon unendlich viele da, umso wichtiger wird ihre Befragung. Auch deshalb konzentrieren wir uns in „Havarie“ nun auf eine einzige Aufnahme. Einmal richtig hinsehen, das gilt es auszuhalten.
Das Gespräch führte Christiane Peitz. „Havarie“: 20.2., 22 Uhr (Cinemaxx 4); „And-Ek Ghes“: 19.2., 20 Uhr (Arsenal1), 21.2., 20 Uhr (Colosseum 1)