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Liebegrüße. Das der "Amor" sich oben rechts auf dem Bild befindet, war länger bekannt.
© Wolfgang Kreische/Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Seine "Briefleserin" wurde übermalt: Restauratoren legen verborgenes Motiv auf einem Vermeer frei

In Dresden wird Vermeers "Briefleserin" restauriert. Experten meinen, das Gemälde wurde von fremder Hand übermalt. Nun macht man den verdeckten Teil sichtbar.

Zu den Spitzenwerken der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zählen zwei Werke des Niederländers Jan Vermeer, "Bei der Kupplerin" von 1656 und "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" von 1657/59. Das "Brieflesende Mädchen" wurde 1742 in Paris für die Sammlung des sächsischen Kurfürsten erworben und im 19. und 20. Jahrhundert mehrfach restauriert. Seit 2017 wird das Gemälde wieder restauriert, aufgrund neuer Erkenntnisse - und die haben es in sich.

Heute Vormittag stellten die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) bei einer Pressekonferenz den Zwischenstand der langwierigen Restaurierung vor. Durch 1979 angefertigte Röntgenaufnahmen war bereits bekannt, dass sich hinter der zuletzt gelbbraun wirkenden Oberfläche des im Gemälde dargestellten Zimmers die Darstellung eines Gemäldes an der Wand befindet, und zwar eine des Liebesgottes "Cupido" respektive "Amor". Bislang wurde angenommen, dass Vermeer selbst dieses Bild im Bild übermalt und die seit 250 Jahren bekannte Fassung mit der kahlen Wand und dem am rechten Bildrand drapierten Vorhang geschaffen habe. Während der laufenden Restaurierung jedoch kamen die Experten, die bei der Pressekonferenz zugegen waren, zur Auffassung, dass die Übermalung von dritter Hand erfolgte.

Diese Ansicht wird gestützt von der Untersuchung winziger Farbproben, die vom Gemälde genommen und im Labor für Archäometrie der der Dresdner Kunsthochschule analysiert wurden. Die Übermalung kann nunmehr mehrere Jahrzehnte nach Vermeers Urfassung und damit weit nach dem Tod des Malers angenommen werden. Es wurde daher beschlossen, die Übermalung abzunehmen; eine ungemein schwierige Arbeit, der sich der Dresdner Gemälderestaurator Christoph Schölzel unterzieht und die noch mindestens ein weiteres Jahr in Anspruch nehmen wird. Dabei muss die oberste Farbschicht mit einem Skalpell entfernt werden, um die darunter liegende Firnis - also den Abschluss des ursprünglichen Gemäldes -, die von Vermeer selbst aufgetragen worden sein muss, nicht zu beschädigen.

Das Bild wirkt deutlich kühler

Durch die Abnahme späterer Firnisschichten auf dem bisherigen Gemäldezustand hat Vermeers Meisterwerk bereits eine deutlich differenziertere und kühlere Farbigkeit mit deutlichen Blau- und Grüntönen zurückgewonnen, wie sie von anderen Gemälden des Künstlers - von dem nur drei Dutzend eigenhändige Werke überliefert sind - bekannt ist. Zum Vorschein gekommen ist bereits die obere Hälfte des dargestellten Gemäldes. Es entspricht offenkundig der Darstellung eines Cupido, das sich in einem anderen Gemälde Vermeers findet, der "Stehenden Virginalspielerin" von 1672/73, die heute in der National Gallery London bewahrt wird. Im Katalog der an Vollständigkeit kaum je zu übertreffenden Vermeer-Ausstellung von 1995/96 in Washington und Delft ist die Dresdner Briefleserin interessanterweise in einer rekonstruierten Fassung mitsamt dem "Cupido"-Gemälde abgebildet, um die auf die Unterkante von dessen Bilderrahmen abgestimmte perspektivische Konstruktionsweise Vermeers zu erläutern. In diesem Katalog weist der dänische Kunsthistoriker Jørgen Wadum, der jetzt zum Expertenkommission der Dresdner Restaurierung gehört, auf den "amourösen Inhalt des Briefes" hin, "den das Mädchen gerade liest". Zu einer solchen, in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts verbreiteten Ikonographie gehört das im Gemälde dargestellte Cupido-Bild wesentlich hinzu. Im Übrigen sind Darstellungen von Gemälden an der Wand der von ihm gemalten Innenräume in Vermeers Gemälden meistens zu finden, beispielsweise im Berliner Bild "Herr und Dame beim Wein".

Stephan Koja, der Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister, zeigte sich bei der Pressekonferenz erfreut, "einen bedeutenden Beitrag zur Vermeer-Forschung leisten zu können". Zunächst wird jetzt das teilrestaurierte Gemälde bis zum 16. Juni im Semperbau der Gemäldegalerie ausgestellt, bevor die Restaurierungsarbeit wiederaufgenommen wird.

Mehr unter https://gemaeldegalerie.skd.museum/forschung/vermeer

Bernhard Schulz

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