Im Kino: "Der junge Karl Marx": Requisiten der Revolution
Lendenstarkes Kino: Das Biopic „Der junge Karl Marx“ untersucht das Denken des Weltverbesserers.
Als um 1840 die Eisenbahnen gebaut wurden, stieg die Nachfrage nach Holz. In den deutschen Provinzen drängten Waldeigentümer die Regierungen, das Sammeln von Bruchholz in den Wäldern zu verbieten. So wurde aus dem Gemeineigentum und dem Gewohnheitsrecht der Armen ein Monopol der Reichen; allein in der Pfalz wurden in zwei Jahren 75 000 Fälle von Holzdiebstahl verfolgt und 10 000 Gefängnisstrafen verhängt.
Raoul Pecks Film „Der junge Karl Marx“ beginnt mit einer Szene aus den Wäldern des Rheinlands: Elendsgestalten sammeln tote Zweige, Reitertruppen der Privatpolizei schlagen sie zusammen. Unter den Bildern liegt schwer ein Satz aus einem Artikel, in dem der junge Philosoph sich zum ersten Mal mit ökonomischen Fragen beschäftigte: „Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.“
Während man noch über diese dialektisch schöne Formulierung nachdenkt, und über die Frage, ob man gerade einer gelungenen Kombination von emotionalen Bildern und aufklärenden Worten oder einem Fall von redundantem Illustrationskino beiwohnt, ist der Film schon in Manchester. In der Spinnerei seines Vaters wird der junge Friedrich Engels Zeuge der Entlassung unbotmäßiger Arbeiter und verliebt sich in die Aufrührerin Mary Burns. Bald darauf landet der Film in Paris, wo Marx die dritte der „Quellen des Marxismus“ für sich entdeckt: nach dem deutschen Idealismus und der englischen politischen Ökonomie nun die Zirkel des utopischen Sozialismus.
Das Denken filmen und den Menschen dahinter zeigen
Das bisherige Werk von Regisseur Raoul Peck changiert zwischen Dokumentation und Poesie. Auch mit „Der junge Karl Marx“ beabsichtigt Peck zweierlei: das Marx’sche „Denken filmen“ (siehe Tagesspiegel vom 13. 2.) und die Menschen dahinter zeigen. Was das Denken angeht, so ist die Form des Episodenfilms prinzipiell ungeeignet, um zu zeigen, wie der junge Marx zunächst die Religion philosophisch, dann die Philosophie politisch und schließlich Religion, Philosophie und Politik ökonomisch kritisierte. Oder wie er aus dem Geist des deutschen Idealismus die romantische Utopie einer unentfremdeten Gesellschaft destillierte, in der Produktion und Liebe zusammengehen.
So beschränken sich in „Der junge Karl Marx“ die hölzernen Dialoge in sepiagetönten Interieurs auf Stichworte für Eingeweihte: ob es um die verbale Hinrichtung des christlich-proletarischen Agitators Weitling durch die „Doktoren der Revolution“ geht oder um die Häme, mit der der hegelianisch geschulte Jungphilosoph den sozialistischen Autodidakten Proudhon lächerlich macht – immer ist Marx der Überlegene. Aber wer es nicht schon weiß, begreift auch hier nicht, warum.
Marx ist von Anfang an fertig: der wortmächtige Rebell, der sich nicht länger vor der Zensur verbiegen will, con brio kündigt, nach Paris geht und dort zum Kommunisten wird. Peck gibt dem jungen Mann mit dem weichen Gesicht nur ein schmales Seelenrepertoire – gnadenlos in den Debatten, zärtlich als „lendenstarker“ (Marx) Ehemann. Für Emigrantenverzweiflung oder innere Konflikte, sprich für Psychologie, ist kein Raum. Stattdessen immer wieder das Schachbrett, diese unvermeidliche Requisite zum Abbilden von Denkvorgängen. Hier bekennt Engels auch: „Sie sind der größte lebende materialistische Denker unserer Epoche.“ Woraufhin sich die beiden besaufen und Marx, nachdem er in den Rinnstein gekotzt hat, mit dem Satz aus der Eingangshalle der Humboldt-Universität antwortet: „Mir ist jetzt etwas klar geworden: Die Philosophen haben bis jetzt die ganze Welt nur interpretiert. Es kommt drauf an, sie zu verändern.“
Ärgerlich ist die holzschnittartige Zeichnung von Jenny Marx
Besonders ärgerlich ist die historische Figur von Jenny Marx, die weit mehr war als die aufopferungsvolle Frau des Weltendenkers. Bei Peck darf die gebildete, weltkluge, auch schreibende Jenny Marx nur blockige Sätze sagen: „Ich will, dass diese ganze alte Welt untergeht.“ Oder sie fragt Engels’ proletarische Freundin am Meeresufer, warum sie keine Kinder wolle, woraufhin die, na was wohl, antwortet: „Ich will frei sein, ich will kämpfen!“
Am Ende gibt es dann einen Geschäftsordnungsputsch im „Bund der Gerechten“, dessen Losung „Alle Menschen werden Brüder“ demonstrativ durch das Banner „Proletarier aller Länder ...“ ersetzt wird. Das hätte nun in der Tat eine Schlüsselszene für das Verständnis der nächsten 100 Jahre werden können: die Spannung zwischen der geschichtsphilosophischen Großthese, der zufolge Kapitalismus und Freihandel die Menschheit reif für die Weltrevolution machen würden, und dem alltäglichen Kampf der Arbeiterbewegungen um Verbesserungen und soziale Gerechtigkeit. Hier aber endet „Der junge Karl Marx“ abrupt. Das Umfeld, in dem Marx seine Theorie entwickelte – die Weberaufstände in Schlesien, das Brodeln der Pariser Vorstädte, die Chartistenkampagnen in England –, bleiben außen vor. Auch von unserer Gegenwart spürt man wenig.
Ist halt alles lange her? Eben nicht. In unserer Epoche der „säkularen Stagnation“ wird, wenn auch nur am Rande des Lehrbetriebs, 150 Jahre nach seiner Niederschrift wieder das „Das Kapital“ studiert. Es bleibt weiter die schlüssigste Krisentheorie – und die einzige, die von der Endlichkeit des Kapitalismus ausgeht. Sicher, das Industrieproletariat, das Subjekt der revolutionären Gewissheit, ist in seiner alten Gestalt verschwunden. Und die Gesamtheit aller Armen, Ausgebeuteten und Arbeitslosen ergibt keine kämpfende Klasse.
Die radikalen Fragen stehen im globalisierten Raum
Aber gerade die radikalen Fragen des jungen Marx, etwa wie man das Gemeineigentum – Natur, Werkzeuge, Information – vor Privatisierung und Zerstörung schützen könne, oder wie der Auflösung aller moralischen Werte entgegenzuwirken sei, stehen im globalisierten Raum. Und nach wie vor berühren die dialektisch verschnörkelten Sätze gerade seiner frühen Schriften, ebenso wie die Vision einer Welt, in der „die Freiheit der Einzelnen die Bedingung der Freiheit aller“ wird.
In einem der Bücher, die im Film nur geschwenkt werden, steht auch geschrieben: „Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.“ Im Abspann von Pecks Film rasen kurz Fotos solcher Menschen aus zwei Jahrhunderten vorbei: Demonstranten, Gewerkschafter, Diktatoren, Besiegte, Aufrührer – und dazu singt Bob Dylan „How does it feel/To be on your own/With no direction home“.
Hier muss ein gegenwärtiger Film über den jungen Marx eigentlich anfangen. Einen Marx ohne Kostüm, den wir noch nicht in- und auswendig kennen. Andererseits wäre es angesichts der augenblicklichen Weltlage ja durchaus denkbar, dass junge Menschen mit prekären Aussichten wieder neugierig werden und sich die Schriften des jungen Marx besorgen. Und sei es für den Preis einer Kinokarte.
Der Autor ist Herausgeber des Buches „Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“, das am 8. März im Kunstmann-Verlag erscheint. Der Film "Der junge Karl Marx" läuft ab Donnerstag in 18 Berliner Kinos.
Mathias Greffrath
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