Leipziger Buchmesse: Registraturen des Geistes
Zettel-Träume: Eine Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach öffnet die Karteikästen von Dichtern und Denkern.
Normalerweise lassen Schriftsteller sich nicht gerne in die Karten schauen. Ihre Texte geben sich größte Mühe, möglichst mühelos zu wirken. In der Werkstatt sieht es meist anders aus. Vor so mancher scheinbar lässig auf das Papier geworfenen Zeile steht der akribische, in manchen Fällen sogar obsessive Prozess der Materialsammlung. Deren eigentliches Werkzeug sind nicht Tinte und Tastatur, sondern Karte und Kasten. Nur selten erhält der Leser Einblick in die wohlgeordneten Zettelsammlungen, die das eigentliche Gerüst vieler großer Romane sind. Steht man dann doch einmal, wie jetzt in einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs möglich, vor den geöffneten Schachteln, Stapeln und Ordnern, die das Rohmaterial von Romanen und Theorien den neugierigen Blicken preisgeben, so würde man sich auf den ersten Blick nicht in einer Werkstatt des Geistes wähnen. Doch was zuerst wie das spröde Mobiliar einer Verwaltungsstube wirkt, beinhaltet nichts weniger als die Registraturen des Denkens. Die auf der Marbacher Schillerhöhe ausgestellten Sammlungen stammen ausnahmslos aus den Vor- und Nachlässen von Dichtern und Denkern von Rang. Arno Schmid, Walter Kempowski, W.G. Sebald, Reinhart Koselleck, Tankred Dorst - sie alle waren leidenschaftliche, einige von ihnen sogar zwanghafte Sammler. Mit der Akribie von Buchhaltern haben sie Ordnungssysteme ersonnen und verzettelt, was immer ihnen bedeutsam vorkam: Definitionen, Zitate, Bilder, Sätze, Metaphern und einzelne Wörter.
Allein der Umfang ist beachtlich. Jean Paul, der den Begriff „Phantasiemaschine“ prägte und daher als poetischer Vater des Zettelkasten-Systems gilt, hat rund 12 000 Blätter hinterlassen. Noch fleißiger war der Philosoph Hans Blumenberg, der seine Lektüren akribisch exzerpiert und sodann auf nicht weniger als 30 000 Karteikarten in 16 Kästen geordnet hat. Die legendären Zettelkästen des Soziologen Niklas Luhmann füllen gar 90 000 Karteikarten im Format A6, von Hand beschrieben und mit dem Stempel durchnummeriert. Gesammelt wird immer und überall. Der Schriftsteller Eckard Henscheid bedeckt, wo er geht und steht, Fahrscheine oder Bierdeckel mit Notizen, notfalls auch mal ein Blatt Toilettenpapier. Die Gedanken gehen „in die Hemdbrusttasche“, dann klebt er sie nach „Gutdünken, oft auch nach Glück und Zufall“ direkt auf die Manuskriptseiten. „Die Zettel-Klebetechnik“ nennt Henscheid sein Verfahren ganz unprätentiös. Zwischen Trennblättern, Buchdeckeln, Etiketten und farbigen Markern wird das analoge Material sortiert, kartografiert und gespeichert. Die neue Ordnung macht es verfügbar und kann es im besten Fall sogar verändern. Als F.C. Delius 1972 für seine Satire „Unsere Siemens-Welt“ einen Vernetzungsplan anlegt, arrangiert er „hässliche, spröde, unbiegsame Wörte“" so lange in neuen Kombinationen neu, „bis einige Funken und etwas Witz schlagen“. Aus der Ablage wird Literatur. Sammlungen sind meist Versuche der Weltordnung. Ihre Erfassungstechniken stehen bisweilen in krassem Gegensatz zum Gegenstand. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler, der selbst eine Theorie der „Aufschreibsysteme“ formulierte, sammelte nebenbei „Mondfarben“: Zitate aus Versen von Chateaubriand, Musset, Gryphius oder Grillparzer. Die Gedichtzeilen tippte er mit der Schreibmaschine auf orangefarbene Normkarten – ein Verwaltungsakt, der angesichts der Zartheit des lyrischen Sujets fast wie eine Vergewaltigung wirkt.
Manche literarische Großtat verliert ihre Einzigartigkeit
Genauso dürfte er es aber auch gemeint haben, denn Sammeln kann auch nivellieren. Indem sie Ähnlichkeiten sichtbar macht, reißt die Sammlung so mancher vermeintlichen literarischen Großtat den Sockel der Einzigartigkeit unter den Füßen weg. Nicht zufällig füllt der Kunsthistoriker Aby Warburg seine Blechdosen mit „Pathosformeln“. Für seine Exzerpte zur Geschichtsauffassung hingegen lässt er sich Kästen mit farbigem Reispapier beziehen damit er sie auch auf Reisen immer zur Hand hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ausstellung solche Autoren diskursiver Prosa gleichrangig neben Romanciers und Lyriker stellt, folgt der Linie, die Archiv-Direktor Ulrich Raulff seit einigen Jahren erfolgreich eingeschlagen hat. Das Literaturarchiv fühlt sich nicht mehr nur für die deutsche Klassik zuständig, sondern in zunehmendem Maße auch für allgemeine Geistes- und Ideengeschichte. Wie wenig sinnvoll die Trennung zwischen Theoretikern und Belletristen ist - auch das zeigen die Zettelkästen: Verfahren und Materialien, aus denen Dichter wie Denker ihre Texte erstellen, sind identisch. Sie beruhen auf ebenso mühevoller Kleinarbeit wie jedes andere Handwerk auch. Indem sie die Mechaniken des kreativen Schöpfungsaktes offenlegen, tragen die Ausstellungs-Kuratorinnen Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter zur Dekonstruktion des Geniekultes bei. Ist es eigentlich ein Zufall, dass fast nur Männer sich mit ihren Sammlungen selbst Monumente setzen? Angesichts mancher Kästen beschleicht einen jedenfalls der leise Verdacht, dass sie weniger notwendiger Teil des Arbeitsprozesses waren, als vielmehr im Dienste der postumen Selbstinszenierung stehen. Der Käfer sammelnde Schriftsteller Ernst Jünger, der sich in der zweiten Lebenshälfte als weltabgewandter Waldgänger inszenierte, klebte gepresste Pflanzen und Schmetterlinge in seine Manuskripte wie in ein Poesiealbum (was die Archivare heute vor eine konservatorische Herausforderung stellt). Wen erstaunt es, wenn der Autor, in dessen literarischem Werk wie in einem Panoptikum des Schreckens abgeschnittene Ohren herumliegen und sich auf Wände genagelte Menschenhände bewegen, auch „letzte Worte“ berühmter Zeitgenossen sammelte? Eine Kollektion französischer „derniers mots“ schenkte ihm nach eigener Auskunft ein SS-Mann. Ein Schlüsselring ist durch das kreisrunde Papier getrieben, so dass es sich zu einem morbiden Taschenspielzeug auffächern lässt. Solcher nahe am Schreckenskitsch angesiedelten Setzkasteninszenierungen eher unverdächtig, war sich selbst ein kühler Denker wie Niklas Luhmann der Autorität seiner Wissenskartei durchaus bewusst. „Zuschauer kommen. Sie bekommen alles zu sehen und nichts, wie beim Pornofilm“, lästerte der Systemtheoretiker über seine eigenen Bewunderer, bewahrte seine wohlgeordneten Kästen aber dennoch für die Nachwelt. Sein kürzlich ebenfalls verstorbener Kollege Kittler hinterließ nicht nur zahlreiche Datenträger und Pappkarten sondern auch den Ausspruch: „Ich habe das tröstliche Gefühl, jemand, der wissen will, wie meine ungeschriebenen Bücher aussehen, könnte das ganz gut rekonstruieren, falls ich plötzlich tot umfalle.“ In den Karten seiner unvollendeten Projekte lebt auch der arbeitende Geist des Verstorbenen weiter. Die Computerisierung ist nicht das Ende, sondern ein Professionalisierungsschub. Den Kauf seines ersten MacInstosh-Computers empfand F. C. Delius 1984 als „Befreiung von den steifen Karteikarten“. Die von ihm zum Verfassen eines Schnellkurses „Konservativ in 30 Tagen" aus der „FAZ“ entnommenen Zitate konnte er nun, einmal elektronisch gespeichert, „beliebig oft kopieren und hin und herschieben“. Nicht auszudenken, was ein Jean Paul oder ein Hans Blumenberg mit einem Computer angestellt hätten. Heute, in Zeiten der zentralen Massendigitalisierung aller verfügbaren Daten durch Konzerne wie Google, wirken die mühsam getippten Kärtchen in den Kisten mit ihrem Anspruch der individuellen Weltordnung auf fast rührende Weise hilflos – wie stumme Zeitzeugen aus einer vergangenen Epoche analogen Datensammelns. Einmal aufgeklappt, fangen sie noch immer an zu sprechen. Manche von ihnen erzählen dabei mehr über ihre Sammler, als denen lieb gewesen sein dürfte.
Noch bis zum 15. September im Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Das Buch zur Ausstellung „Zettelkästen. Maschinen der Phantasie“ hat Heike Gfrereis in der Reihe Marbacher Katalog herausgegeben und kostet 28 Euro.
Bodo Mrozek
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