Kultur: Regierungserklärung
Was ist Rot-Grün? Was könnte verschwinden? Was wird von den sieben Jahren bleiben? Ein politisches Glossar in 23 Punkten
ATOMAUSSTIEG
Er war einer der Gründe, warum Umweltschützer in den 70er Jahren zusammen mit ein paar 68ern die Grüne Partei gründeten. Das Risiko, wegen eines AKWUnfalls Opfer radioaktiver Strahlung zu werden, erschien bald auch der Mehrheit der Bundesbürger zu hoch. Darum versprachen Rot und Grün ihren Wählern 1998 den Atomausstieg. Doch nach dem Wahlsieg stellte sich heraus, dass Kanzler Schröder keinen Machtkampf mit den Stromkonzernen führen wollte. Nach zweijährigen Verhandlungen vereinbarte man eine um acht Jahre kürzere Laufzeit der Reaktoren als die ursprünglich geplanten 40 Jahre. Praktischerweise musste so vor 2008 kein großer AKW-Block stillgelegt werden. Der Atomausstieg geriet zur größten anzunehmenden rot-grünen Irreführung: Er fand nicht statt. hsc
BRIONI
Wem, wenn nicht dem dauerrepräsentierenden Bundeskanzler, stünde eine Auswahl gut sitzender Anzüge zu? Gut, ein Zweiteiler von Brioni kostet um die 3000 Euro, das ist viel Geld – aber sollte man ernsthaft vom Kanzler das politisch korrektere Tragen von Stangenware oder gar Strickjacken einfordern? Nein, höchstens ein bisschen mehr Diskretion: Wer sich beim Maßnehmen in Bella Italia fotografieren lässt, ist selber schuld. Angela Merkel wird sich sicher nicht bei Versace erwischen lassen. oom
CHEFSACHE
Wer zum Frisör geht, möchte die Haare vom Meister geschnitten haben und nicht von irgendeinem Azubi. Politik funktioniert nicht anders als ein Frisörgeschäft. Die Arbeitslosigkeit bekommt kein Beamtenschwengel in den Griff. Da muss der Chef ran. Und der Chef lässt sich nicht lumpen. Bei Google ergibt „Chefsache Gerhard Schröder“ 15000 Ergebnisse, in der Reihenfolge: Onur Air, Unternehmensteuer, Rußfilter, Einstein, Doppelpass, Landeverbot, Gedöns, Innovationsoffensive… Nicht nur den Fall Albert Einstein hat der Kanzler zur Chefsache erklärt und abschließend gelöst. Na bitte, es geht doch. not
DOSENPFAND
Wer auf Grüne schimpfen will und gerade kein Windrad zur Hand hat, greift zum Dosenpfand. Pfand auf Büchsenbier und Plastikflaschen – kann nur ein Spinner wie dieser Trittin drauf kommen. Indes, gemach. Die Idee stammt von Klaus Töpfer, ins Gesetz geschrieben hat sie Angela Merkel. Für die Umsetzung können beide nichts. Für die Idee des Handels, den Pfand-Gedanken zu boykottieren, kann der Umweltminister auch nichts. Dass anfangs jeder Kiosk nur seinen eigenen Müll zurückzunehmen wollte, hat das Projekt ruiniert. Die Deutschen trennen Müll, aber nicht in 27 verschiedene Fächer. Zu wenig gewürdigt worden ist der Beitrag des Dosenpfands zur Gesundung des Einzelhandels: Der hat das Pfand kassiert, aber höchstens jede zehnte Bierbüchse zurücknehmen müssen. Die andern neun hat der konfuse Bürger weggeschmissen. bib
ELBE-HOCHWASSER
Im Nachhinein mag der Plot ein bisschen platt wirken – schließlich hatte schon Schröders Vor-Vorgänger Helmut Schmidt mal bei einer Flut als Macher überzeugt. Doch Schröders Performance im August 2002 war noch stärker, noch dichter, noch überzeugender. Schröder machte den Macher live, im Fernsehen, und da musste alles stimmen. Der Macher im Katastrophengebiet wirkte betroffen, grimmig, entschlossen, tatendurstig. Man sah es an seinem Gesicht, dem das Lachen so ganz ausgetrieben schien. Das Beste an diesem Auftritt war das, was man nicht sah: dass Schröders Herausforderer Edmund Stoiber noch auf Juist urlaubte, während Schröder schon den Katastrophenstab leitete. wvb.
FISCHER-DEBATTE
Darf ein deutscher Außenminister im linksradikalen Milieu Steine werfen und Polizisten prügeln? Natürlich nicht. Darf in Deutschland ein Politiker Außenminister bleiben, der in seiner Jugend im linksradikalen Milieu Steine geworfen und Polizisten geprügelt hat? Genau um diese Frage drehte sich die „Fischer-Debatte“ Anfang 2001. Eine Illustrierte zeigte Fotos, wie ein behelmter Joschka Fischer auf einen Beamten einschlägt. „Ja, ich war militant“, bekannte der Vizekanzler. Der Minister wackelte. Doch gelang es ihm, mit Demutsgesten die Sympathien zurückzuerobern. Und die Republik versöhnte sich mit ihrer Geschichte. hmt
GREEN CARD
Ein Begriff aus dem Jahr 2000. Börsenboom. Die Mannesmann-Übernahme. Milliarden für UMTS-Lizenzen. Wirtschaftswachstum. Und dann die gesellschaftliche Antwort des Bundeskanzlers auf der Cebit: die Green Card für ausländische Computerspezialisten. Alle rein, die was können – so viel Übermut musste zum Fall führen. Die Greencard wurde in der heraufdämmernden Krise der New Economy ergänzt durch Jürgen Rüttgers „Kinder statt Inder“-Parole, dann 2004 ersetzt durch das neue Zuwanderungsgesetz: Hochqualifizierte können auf Dauer bleiben. uwe
HARTZ IV
Die Sozialreform hat eine dreifache Wirkung. Ihr Namensgeber Peter Hartz dürfte zu den politikverdrossensten Personen im Land gehören. Zweitens führte Hartz IV dazu, dass auch gleichmütige Angestellte erkannten, wie prekär ihre Existenz werden kann. Wer seinen Job verliert, wird nach zwölf Monaten womöglich zum Sozialhilfeempfänger. Das hat in Teilen des Mittelstands zu Grübeleien über „Gerechtigkeit“ geführt: Ist es gerecht, eine teure Wohnung verkaufen zu müssen? Oder der Ehefrau zur Last zu fallen, wenn die noch einen Job hat? Was immer man für gerecht hält – so eine Reform macht eine Regierung nur dann, wenn sie sich etwas anderes einfach nicht mehr leisten kann. Hartz IV ist die Kurzform von: Der Sozialstaat kann nicht mehr. wvb.
HEUSCHRECKEN
Schon im vergangenen November sprach Franz Müntefering von den „verantwortungslosen Heuschreckenschwärmen, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben“. Seine Rede blieb ohne Resonanz. Erst als der SPD-Chef vor der NRW-Wahl „manche Finanzinvestoren“ mit Heuschrecken verglich, traf er einen Nerv. Die Partei, zermürbt von den Reformen und die Wahlniederlage ahnend, jubelte und stürzte Deutschland in eine Kapitalismusdebatte. mod
HOMO-EHE
Aus dem kilometerlangen Reformstau, in dem Rot-Grün bei der Machtübernahme 1998 zu stecken glaubte, scherten die Rechtspolitiker um den Grünen Volker Beck frühzeitig aus. Ihr Projekt: die Eingetragene Lebenspartnerschaft, wie die Homo-Ehe offiziell heißt. Am 1. August 2001 war es so weit. Noch mal knallten die Korken, als das Bundesverfassungsgericht 2002 feststellte, die Homo-Ehe sei mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar. Doch die Grünen konnten nicht lange feiern – weil die Union im Bundesrat die weitere Gleichstellung im Steuerrecht blockierte. Und weil weit weniger Homo-Paare als erwartet von dem neuen Recht Gebrauch machten. oew
KOSOVO-EINSATZ
Den einen war es Tabubruch, „Verletzung des Völkerrechts“ und schändliche Beteiligung an einem Angriffskrieg, den man für das Nachkriegsdeutschland eigentlich ein für alle Mal ausgeschlossen glaubte. Den anderen war es die verantwortungsethisch orientierte Ankunft der Bundesrepublik in der Neuzeit, ein sicherheitspolitisches „Must“, das sich nach dem Ende der Blockkonfrontation wie von selbst ergab. Und wenn beides stimmte? Mit dem Kosovo-Einsatz hat Rot-Grün seine Unschuld verloren und das wiedervereinigte Deutschland seine Rolle auf internationalem Parkett neu definiert. Sechs Jahre ist das her. Zeit genug, um Wogen zu glätten. In der multinationalen Kfor-Friedenstruppe sind derzeit 2600 Bundeswehrsoldaten stationiert. Als der Bundestag kürzlich das Mandat für die Kfor-Truppe verlängern musste, waren 575 Abgeordnete dafür, nur sieben dagegen. Vbn
LKW-MAUT
In Deutschland können auch kleine politische Vorhaben einen manisch-depressiven Schub auslösen: Für die Maniker ging es darum, so etwas wie die Matrix für Lkw zu entwickeln. Gerade im Scheitern des Mautsystems zeigte sich für sie die gigantische Herausforderung, der sich nur eine große Nation stellen kann. Die Depressiven erinnerten sich voller Selbsthass daran, dass sogar Österreich in der Lage ist, eine Maut zu kassieren. Der psychotische Schub ist vorbei. Dafür muss, wer einen Lkw mit mindestens vier Achsen fährt, zehn bis 14 Cent pro Autobahn-Kilometer bezahlen. mos
MASSENARBEITSLOSIGKEIT
Sie war lange ein Thema für die Geschichtsbücher. Massenarbeitslosigkeit erschien wie ein Charaktertest für die Deutschen. Als die Zahl 1933 sechs Millionen erreicht hatte, sind sie bekanntlich durchgedreht. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Vollbeschäftigung immer noch das gesellschaftspolitische Ziel ist. Nur: Agenda 2010 hin, Lohnnebenkosten her, Arbeit für alle wird es wahrscheinlich nie mehr geben. Es wäre deshalb an der Zeit, darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft Menschen, die die Erwerbswelt nicht braucht, integrieren kann. Das traut sich aber keiner. Knapp fünf Millionen Arbeitslose – das klingt zu sehr nach Geschichtsbuch. stf
MERKMAL, BIOMETRISCHES
Als die Grünen einst in frischem Frühlingsgrün standen, gehörte George Orwells „1984“ zur alternativen Pflichtlektüre. Damals war Otto Schily auch noch ein Grüner. Inzwischen ist Schily bei der SPD, Orwells Zukunft 20 Jahre her und der Terrorist zum Schrecken der Gegenwart geworden. Deshalb werden wir bald alle im Pass einen Eintrag finden, bei dem es sich um die digital verarbeiteten Umrisse unseres Kopfes handelt. Diesen kann ein Computer blitzschnell mit dem Kopf des Reisepassträgers vergleichen. Schädel sind fälschungssicher. Das findet Otto Schily wichtiger als irgendwelche Einwände irgendwelcher Bundesdatenschützer. Big Brother? Aber woher denn! Über unser aller Sicherheit wacht schließlich kein bösartiges Computerauge, sondern der Innenminister. bib
NACHHALTIGKEIT
Eigentlich geht es darum, dass, wer Bäume fällt, auch welche pflanzen sollte. Die „nachhaltende Nutzung“ wird erstmals in einem forstwirtschaftlichen Aufsatz aus dem Jahr 1713 verlangt. Die „Agenda 21“ der UN, 1992 in Rio als umwelt- und entwicklungspolitisches Leitbild beschlossen, war der Durchbruch für den Begriff, doch erst unter Rot-Grün machte er Karriere. Kein Politikfeld kam ohne die ausdrückliche Forderung aus, von Atomausstieg bis Wachstum. Am Ende, wenn es wirklich so weit ist, wirken vor allem die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung nachhaltig. mod
NEUE MITTE
Man kann sie von Montag bis Freitag im Berliner Politviertel erleben. Kurzhaarige Männer mittleren Alters, schwarz oder grau beanzugt – aber mit Mut zum orange- oder fliedermetallicfarbenen Schlips. Es sind die Politicos, denen man die Prägung nicht mehr ansieht. Sie könnten zur FDP oder zu den Grünen gehören. Sieben Jahre haben gezeigt, dass gerade die SPD-nahen Angehörigen dieser Gruppe hohen Krawattenaufwand nicht scheuen. Die neue Mitte bekennt sich parteiübergreifend zum gediegenen Konsum.wvb.
ÖKOSTEUER
Sie ist ein Projekt fürs gute Gewissen: Wer natürliche Ressourcen verbraucht, muss dafür blechen. Als eines der ersten rot-grünen Gesetze trat im April 1999 die ökologische Steuerreform in Kraft, mit der schrittweise die Steuersätze für Mineralöl und Strom erhöht wurden. Mittlerweile fließt der größte Teil der Einnahmen aus der Ökosteuer (18 Milliarden Euro) in die Rentenkasse. Ökonomen loben das als „doppelte Dividende": In der Theorie geht es der Umwelt besser, gleichzeitig bleiben für die Unternehmen die Arbeitskosten beherrschbar. ce
PESARO
Helmut Kohl fuhr als Kanzler immer zum Wolfgangsee. Man konnte ihn dann auf Fotos sehen, wie er mit Frau Hannelore ein Rehkitz streichelt. Und es sah ganz so aus, als ob die 60er Jahre nie mehr aufhören würden. Dabei war das Bild von 1994. Dann kam Schröder und brachte ein bisschen Dolce Vita ins Kanzleramt. Sogar einen Künstlerfreund hatte er an der Adria: Bruno Bruni in Pesaro. Da fuhr er im Urlaub meistens hin, wenn er nicht gerade in Positano war oder ein italienischer Tourismusminister ausfällig wurde und ihm die Ferien versaute. So viel Treue wurde belohnt, Schröder ist inzwischen Ehrenbürger von Pesaro. lat
RIESTER-RENTE
Mit der Riester-Rente hat sich der frühere Sozialminister Walter Riester 2002 ein Denkmal setzen lassen. Weil aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft nicht mehr viel herauszuholen ist, sollen die Bürger zusätzlich vorsorgen. Der Staat subventioniert das Sparen fürs Alter mit Zulagen und Steuervorteilen. Ursprünglich sollte die Riester-Rente zur Pflicht werden, bis „Bild“ von diesen Plänen erfuhr und „Zwangs-Rente“ schrie. Inzwischen gibt es das Verb zur Rente: Mehr als vier Millionen Deutsche „riestern“. ce
SOLIDARITÄT, UNEINGESCHRÄNKTE
Das Wort ist fast vergessen. Uneingeschränkte Solidarität hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA am Abend des 9.11.2001 versprochen – und er hat sich daran gehalten. Die „uneingeschränkte Solidarität“ war eine Botschaft an die Welt und an die eigene Koalition, die mit dem Kanzler-Wort festgelegt war: auf eine Solidarität ohne Einschränkung der Mittel, also einschließlich der militärischen. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan war bei SPD und Grünen so umstritten, dass Schröder im November 2001 mit einer Vertrauensfrage im Bundestag die Zustimmung der Koalition erzwingen musste. Dass mit der uneingeschränkten Solidarität keine bedingungslose gemeint war, hat Schröder im Irakkrieg bewiesen: Solidarität für den Anti-Terror-Kampf, nicht für das Abenteuer im Irak. tib
STEUERREFORM
Ein rot-grünes Dauerprojekt mit Chamäleoncharakter. Hans Eichels Jahrhundertwerk entlastet alle Einkommensschichten in verschiedenen Stufen, drückt die Körperschaftsteuer auf für Deutschland wirklich niedrige Sätze. Dankbarkeit? Mitnichten. Die unteren Einkommensschichten klagen (zu Recht), das alles werde aufgefressen von den Soziallasten. Die oberen maulen (zu Recht), dass es woanders noch günstiger ist. uwe
VOLMER-ERLASS
Wer als Minister zulässt, dass Hunderttausende von Ukrainern sich deutsche Visa erschleichen, serviert der Opposition ein Angriffsthema. Am Anfang tobten im Visa-Untersuchungsausschuss nur ideologische Schlachten, dann stellte sich heraus: Der grüne Staatsminister Ludger Volmer hatte den Erlass zur Liberalisierung der Visapraxis mit dem Satz „in dubio pro libertate“ zwar angestoßen, aber nicht verfasst. In gespielter Demut bot der Außenminister dem Gremium vor laufenden Kameras dann an: „Schreiben Sie: Fischer ist schuld.“ Da war er schon vom Sockel des populärsten Politikers gestürzt. hmt
ZIVILCOURAGE
Einen „Aufstand der Anständigen“ proklamierte Schröder im Herbst 2000. Er wollte nicht tapfere Bürger zum Barrikadenbau treiben, sondern „nur“ Engagement gegen Rechtsextremismus anregen – nachdem in Düsseldorf ein Attentat auf jüdische Aussiedler und ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt worden waren. Die Republik zeigte sich erschüttert, der linke Teil forderte vehement, Zivilcourage zu zeigen. Dank der weiter häufigen Verbindung mit dem Topos „Kampf gegen rechts“ wird „Zivilcourage“, einst ein Synonym für Bürgermut, inzwischen eher als antirassistische Mahnvokabel intoniert. fan
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