zum Hauptinhalt
Alles so schön gelb strahlend hier: Kraftwerk spielen in der Neuen Nationalgalerie "Radioaktivität"
© AFP PHOTO / JOHN MACDOUGALL

Kraftwerk in Berlin, das 2. Konzert: Radioaktivität - Gib mir Energie!

Immer fahren, immer weiter, nicht nur auf der Autobahn: Kraftwerk spielen an acht Tagen jeweils ein Album und mehr in der Neuen Nationalgalerie. Wir schreiben zu jedem Auftritt eine Konzertkritik. Heute Chefredakteur Lorenz Maroldt über "Radioaktivität".

Zweiter Abend, zweites Album: Radioaktivität. 1975 erschienen, 37.39 Minuten, 12 Titel, beginnend mit dem schneller werdenden Bopp-Bopp beim „Geigerzähler“-Intro, direkt überleitend ins zentrale Stück „Radioaktivität“, dann diverse Antennen und Transistoren, schließlich das etwas alberne „Ohm sweet Ohm“. Nicht das stärkste Kraftwerk-Album – wie kommt das wohl live?

„Radioaktivität“, einst ein neugierig-naives Stückchen Atomtechnikneutralität, ist unter dem Einfluss der Strahlen von Harrisburg, Tschernobyl, Sellafield und Fukushima zum Agitpopstück mutiert. Das neue, vermerkelte Kraftwerk schleudert dem Publikum, darunter viele ältere Herren vom Typ Kunstprofessor mit Studentinnenbegleitung, das 3D-animierte „STOP“ so massiv von der Bühne entgegen, dass man meint, vor den heranfliegenden Buchstaben in Deckung gehen zu müssen.

Der Rest der ersten 32 Minuten versendet sich ein wenig im All, so als suchten die vier Figuren im Neongitteranzug auf der Bühne noch die richtige Frequenz auf dem Senderband. Aber dann beginnt ein Rausch von Bildern, Tönen, Zahlen, Licht, Klang, Rhythmen, Geräuschen und Farben, der sich weit entfernt von dem, was 1975 „Scheibe“ genannt worden war und sich auch erhebt über den mp3-Remix von 2009. Pure Energie.

"Radioaktivität": In gemächlicher Fahrt auf der Autobahn

Energie? 1971 war zwar ein Interview mit Mastermind Ralf Hütter im "Musikexpress" überschrieben mit dem Titel "Kraftwerk: Industrielle Anlage zur Gewinnung von elektronischer oder atomarer Energie". Aber bei aller Schwärmerei war es ein öfter zu hörender Vorwurf ihrer elektromusikalischen Nachfahren, dass es Kraftwerk genau daran mangelte: an Energie. Gabi Delgado von DAF beispielsweise erinnert sich in Jürgen Teipels Buch „Verschwende deine Jugend“ wenig schmeichelhaft an die Krawattenträger aus Oberkassel, die mit ihren Bundfaltenhosen in Schnullibars an ihren teuren Milchcocktail schlürften. „Das war genau die Welt, die wir angreifen wollten“. Er empfand Kraftwerk als „lasch“. Mit dem, was da in der Nationalgalerie an insgesamt acht Abenden über die Bühne geht, hat das nichts zu tun.

Exakt eine Stunde läuft der Hauptblock nach „Radioaktivität“, in gemächlicher Fahrt auf der Autobahn, in rasender mit dem TEE, in schwebender durchs All, es ist Zeit für einen Drink mit dem Model. In der ganzen Tiefe des Raums läuft dazu der„Musikfilm“ aus dem Kling-Klang-Studio, der permanent schreit“ „Ich bin Kunst“, Konstruktion und Graphics, Mondrian und Lichtenstein .

Kraftwerk - Mensch und Menschmaschine

Fast am Ende: „Wir sind die Roboter“. Und die Frage: Was ist Mensch, was Maschine? Die Menschmaschine Kraftwerk gibt die Antwort gleich darauf, nach exakt zwei Stunden, als sie sich auflöst zu „Musique Non Stop“: Einer nach dem anderen bekommt sein Solo und seinen Abgang, am Ende Ralf Hütter, der plötzlich beginnt, sich zur Musik zu bewegen, fast möchte man sagen: zu tanzen. Ein Mensch, der eine großartige Maschine bedient.

Jeden Tag veröffentlichen wir zu allen acht Berliner Kraftwerk-Auftritten Konzertkritiken. Den Text von Gerrit Bartels zu "Autobahn" lesen Sie hier. Morgen bespricht Online-Chefredakteur Markus Hesselmann den Auftritt zum Album "Trans Europa Express". Um alle Kraftwerk-Kritiken zu lesen, klicken Sie hier.

Zur Startseite