Kultur: Putins Bruder
Mussorgsky in echt: Daniel Barenboim und Dmitri Tcherniakov modernisieren „Boris Godunow“ an der Berliner Staatsoper
Um ein Wort Karl Valentins zu variieren: Realismus ist schön, macht aber viel Arbeit. Und vielleicht ist der Realismus ja auch gar nicht so schön, wie man immer denkt, wenn man Mussorgsky denkt und überhaupt 19. Jahrhundert, russische Oper. Das ganze orthodoxe Glockengepränge, die dröhnende Tuba, kreischende Flöten, klagende Bratschen, krachendes Schlagwerk, sich aufbäumende Chor-Tableaus – ach ja. Dies alles scheint tatsächlich der Monumentalität der russischen Wirklichkeit abgelauscht, der Weite ihrer Landschaften, der Feindseligkeit ihrer Kirchenfürsten und Diktatoren, der Wodka-Seligkeit des Gefühls. Bis heute. Denn der Gulag, so will es das Klischee, währt ewig, und jede Zukunft meint immer auch Vergangenheit. Als läge das Schaurige zutiefst in der Natur der russischen Seele.
Wie Modest Mussorgsky in „Boris Godunow“ freilich all diese Versatzstücke montiert, welchen expressionistisch-kubistischen Meister-Rohling er mit der Erstfassung der Oper 1869 schmiedet, nein, bildhauert, das hat mit Realismus, mit Illustration nicht mehr viel zu tun. Mussorgskys Musik, so sagt es Dietmar Holland, sei eine „psychologisch handlungssetzende“. Sie nimmt die Sache selbst in die Hand, rückt das dramatische Geschehen um den Zaren Boris, der mittels Mord den Thron erklimmt und an seiner Mords-Schuld irre wird, permanent ins richtige und das heißt: in ein anderes, noch schrecklicheres Licht. Wo Mozart Fragen stellt, wo Verdi Vorschläge macht, wo Wagner ideologisiert, da lässt Mussorgsky, der Historiker unter den Opernkomponisten, seinen Hörern keine Wahl. Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin wissen das – und genießen diesen Premierenabend an der Lindenoper in vollen Zügen. Das Holzschnitthafte, eisig Moderne, unvermittelt die Wahrheit Ausstoßende ist ihre Sache erwartungsgemäß nicht. Dafür berauscht man sich im Graben viel zu gern an den in satten güldenen Farben funkelnden Streicherteppichen, am niemals nur metallischen Sound des Blechs.
Trotzdem müsste diese Musik unerbittlicher deklamiert werden, kälter, im Gestus schrundiger, hässlicher auch. Dass ihm die weichen Kanten und eine gewisse kulinarische Klangmassierung indes nicht unterlaufen, sondern Überzeugung sind, ästhetisches Credo, Mittel zum Sog, versteht Barenboim in seinem „Boris“-Debüt immer wieder eindrücklich zu untermauern. In der hämmernden Not des Volkes gleich zu Beginn, in der harmonischen Brüchigkeit der weit sich auffächernden Chöre (Einstudierung: Eberhard Friedrich), bei Boris’ zunächst nur flackerndem, dann jäh loderndem Wahn, im Barmen seiner Tochter Xenia (Sylvia Schwartz), in der Verlorenheit des kleinen Zarewitschs (Raimonds Gravelis).
Sängerisch ragen Pavol Bresliks hinreißend schön timbrierter Gottesnarr sowie Burkhard Fritz’ flammender Dmitrij aus dem Ensemble hervor. Aber auch Rosemarie Lang (Amme), Stephan Rügamer (Schuisky) und Alexander Vinogradov (Pimen) gestalten ihre Sache glaubhaft. Und René Pape, viel umjubelt, ist Boris. Ein Bruder Putins, dem die Gewissensqual von Anfang an ins Gesicht geschrieben steht. Stimmlich ein junger (zu junger?) Zar, vielfach lyrisch noch im Zugriff, mit herrlich virilen Mahagonny-Tönen in der Mittellage und etwas blassen Höhen. In der Tiefe aber fehlt Pape doch die spezifische Schwärze der Partie, jene teergleichen Ablagerungen aus Habgier, Reue, Stolz und Lust, die diesen Boris erst zum Charakter machen. Pape bleibt immer Stimme, immer nobel, ist nie Naturgewalt. Ein Schaljapin, ein Ghiaurov, ein Talvela wird aus ihm nie werden. Aber vielleicht bringt das 21. Jahrhundert ja einfach keine Rasputin-Typen, keine Bässe wie Bäume mehr hervor.
Mächtig laut geht es an diesem Abend auch zu, und bisweilen fürchtet man, die Saaldecke würde sich lupfen und das Publikum in einem riesigen Strudel gen Osten reißen, bis weit hinter den Ural. Das geschieht am Ende nicht, wie das kleine Haus das große Stück überhaupt erstaunlich gut bewältigt. Schade nur, dass ein unerklärliches, nervtötendes Motorengeräusch (das Notstromaggregat des maroden Knobelsdorff-Baus? die eifrig tätige Trockeneismaschine?) die leisen Stellen von der Bühne her kategorisch übertuckert, überbrummt.
Realismus, wie gesagt, macht Arbeit. Die hat Dmitri Tcherniakov, der 35-jährige russische Regisseur, wahrlich nicht gescheut. Die von ihm entworfene Bühne zeigt Moskau im Jahr 2012 (Zukunft! Vergangenheit!): ein Coffeeshop, der Eingang einer U-Bahn-Station, eine riesige Digital-Uhr, die mal springt, mal rennt, klassizistische wie postmoderne Fassaden, eine Weltkugel. Das Ganze hübsch echt gemacht und nicht ungeschickt ineinander verschachtelt, als stürze die Zeit in ein schwarzes Loch. Auf keinen Fall will Tcherniakov – und das muss man anerkennen – hier die Geschichte vom Klabautermann erzählen oder mit Mussorgskys musikalischer Monströsität konkurrieren.
Seine Figuren sind Menschen von heute, die es auch morgen noch nicht weiter gebracht haben werden – und die sich (deshalb?) in die immergleichen DetailPusseleien flüchten. Unablässig wird getrippelt, getrappelt und quer über die Bühne getrampelt. Der Kinderchor tritt in Pape-T-Shirts auf, der falsche Dimitrij darf sich rasieren, das Volk schwenkt Einkaufstüten, den Anschlag auf die Moskauer U-Bahn – krach, bumm, qualm – gibt’s als Déjà-vu, im Hungerchor des sechsten Bildes werden Haare gewaschen und Mahlzeiten gesotten, Schuisky darf sich singend die Zähne putzen, und am Ende sind alle tödlich schwer verletzt.
Handwerklich ist das nicht schlecht gelöst. Tcherniakov hat das, was man früher eine Pranke nannte. Und überhaupt grüßt hier so einiges aus älteren Theatertagen. Das hätte lehrreich sein können, vielleicht sogar läuternd. Allein, die Regie formuliert keine rechte Haltung zu Mussorgskys „musikalischem Volksdrama“. Weil sie es schlicht nicht anders weiß? Weil es heutzutage selbst in Russland kein Volk mehr gibt und keine Machtfrage, die sich wirklich stellt? Der böse Boris jedenfalls stirbt am Ende getrost im Sitzen, ganz wie es sich für einen Schreibtischtäter gehört. Buhs für die Regie, Bravi für die Musik.
Wieder am 14., 18., 22. und 30.12.
Christine Lemke-Matwey
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