Miles Davis: Zeichen und Zunder
Miles Davis and more: Eine neue CD-Box lüftet letzte Geheimnisse des legendären Jazztrompeters.
Außer dem Teufel am Tamburin, soll er Anfang der siebziger Jahre mit seiner kehlkopflädierten Reststimme gekrächzt haben, habe ich jeden in der Band. Das war nicht nur Miles Davis’ übliche Großmäuligkeit. Gegen das bis zur Schmerzgrenze verstärkte und verzerrte Inferno, dessen Betriebstemperatur zeitweise vier Drummer und Perkussionisten regelten, wäre der Teufel sogar mit schwererem Geschütz nicht durchgekommen. Über dem Gebräu, das Miles Davis 1969 mit „Bitches Brew“ im Studio angesetzt hatte, waren live längst die Flammen zusammengeschlagen. Was da auf der Bühne dampfte und brodelte, war in seiner ursprünglichen Gestalt kaum mehr zu erkennen. Und obwohl bald 40 Jahre vergangen sind, in denen man sich an die Gewalt dieser Musik gewöhnen könnte, ist sie bis heute eine Herausforderung.
Die Popularität von Miles Davis als Figur steht jedenfalls in anhaltendem Widerspruch zu seiner Radikalität als Musiker. In die Unsterblichkeit, die er schon 1959 mit der kühlen Eleganz von „Kind of Blue“ errungen hatte, mischt sich – 16 Jahre nach seinem Tod im September 1991 – nach wie vor der Makel eines leisen Unverständnisses für den Teil seiner Karriere, mit dem er sich von Davis, dem Neo-Bop-Virtuosen an der Trompete, in Electric Miles, den Eklektizisten, verwandelte. Was für ein Glück, dass er als schwarzer Hipster mit bunten Schals und Hemden sich zugleich besser denn je als Jazzheiliger eignete, zu dessen Bild man aufschaut, als hätte man nach all seinen Metamorphosen nicht fürchten müssen, dass er schon wieder ein anderer ist, sobald man ihm nur den Rücken zudreht.
Während mit den „Complete On The Corner Sessions“ (Sony BMG) auf 6 CDs nun sein vorerst letzter Ton aus den Studioarchiven dieser Zeit befreit ist, kann man also dennoch nicht behaupten, dass er das Herz einer breiten Zuhörerschaft gewonnen hätte. Im Unterschied zu damals, als das Rockpublikum Miles Davis ausbuhte und das Jazzpublikum ihm nicht mehr zu folgen bereit war, steht heute aber fest, dass er wie kein Zweiter dazu beitrug, die Lager aufzulösen. Was Miles Davis zwischen „Filles de Kilimanjaro“, dem letzten Album seines 60er-Jahre-Quintetts mit Herbie Hancock und Wayne Shorter, und „Get Up With It“, seinem letzten Studioalbum vor dem Abtauchen in ein fünfjähriges Loch, vermischte, lässt sich nie mehr trennen.
Man hört dieser Musik ihre Entstehungszeit, die siebziger Jahre, mit jedem Ton an. Alle, die sie beerbt haben, George Clinton und das Parliament-Funkadelic-Kollektiv, aus dem der Hip-Hop erwuchs, Ronald Shannon Jackson und James Blood Ulmer mit dem Free Funk, Steve Colemans M-Base-Kollektiv mit seinen polymetrischen Schleifen oder Me’shell Ndgeocello mit ihren wuchtigen Bass-Linien, sind musikhistorisch weiter. Doch es gibt keine handgemachte Musik, die intensiver glühen und ihr Jazz-Rock-Soul-Pop- Amalgam flüssiger halten würde als die von Miles Davis in jener Zeit.
Man darf nur nicht den Fehler machen, gerade das umstrittenste Album jener Jahre, nämlich „On the Corner“, das Produzent Teo Macero damals wie immer aus stundenlangen Sessions im manuellen Cut-and-Paste-Verfahren montierte, gleich zu deren Höhepunkt zu erklären. Fast eine Art Trotz liegt darin, wenn Tom Terrell in seinen Liner Notes zur edlen Box mit den Ursprungstracks (und zwei Stunden ungehörten Materials) betont, es handle sich um eine Musik, „die nicht nur ‚Bitches Brew’ nahezu auf Democharakter herunterstuft, sondern sich auch jenseits der Außengrenzen von Jazz, Rock und Funk bewegt. An einem Ort, den nur Miles mit seinen Augen sehen, mit seinen Ohren hören und mit seiner Zunge schmecken konnte. An einem Ort, wo Afrikanisches und Indisches und Stockhausen und Sly Stone und Hendrix und James Brown sich als ein Volk unter einem einzigen Groove fanden.“
Denn Miles Davis passierte im Lauf jenes halben Jahrzehnts mit schnell wechselnden Bandmitgliedern mehrere Klimazonen, die alle in opulenten Boxen dokumentiert sind: zuletzt den „Complete Jack Johnson Sessions“ und den „Cellar Door Jazz Sessions“, die vielleicht die größte Trouvaille sind. Eine wuchernde Wildnis, in der kein Instrument sein will, was es von Natur aus ist. Altsaxofonist Gary Bartz und Miles Davis zerquetschten die Töne mit dem Wah-wah-Pedal, und Keith Jarrett ließ mit dem Ringmodulator bearbeitete Tontrauben aus seinem Fender Rhodes Piano regnen.
Man könnte sagen: Vom Dschungel aus ging es für Miles Davis geradewegs in die Wüste – von den dichten, verschatteten Klanglandschaften, die „Bitches Brew“ prägten, hinaus in die rissige Unendlichkeit einer sonnenverbrannten afrikanischen Erde, wie man sie beim Hören von „Dark Magus“ oder „Pangaea“ vor sich sieht. Und zwischendurch hielt er inne, ließ ein „Lonely Fire“ brennen, über dem seine Trompete traurige Schlieren in den Himmel zeichnete. Oder er schuf mit dem halbstündigen „He Loved Him Madly“ eine Klangkulisse, die Brian Eno als Urform seiner Ambient Music verehrt.
Doch das sind seltene Momente der Ruhe. In seinen letzten Konzerten vor dem Rückzug 1975 punktierte Davis das Geschehen nur noch mit Trompetenstenogrammen, jagte mit einem Elektroörgelchen schrille Cluster los und ließ ansonsten Sonny Fortune über lärmenden Weiten zu Flöten- und Altsaxofonsturzflügen aufsteigen. Pete Cosey traktierte seine Gitarre, als wollte er den toten Jimi Hendrix wiedererwecken, und Al Foster trommelte die Band mit dem Furor eines auf unmerkliche Beschleunigung drängenden Gleichmaßes vor sich her. Ein Gegenentwurf zur nervösen, alle eindeutigen metrischen Akzente verwischenden Energie, mit der Tony Williams seine Becken zischen ließ. Und ein Gegenentwurf zur Hyperpräzision von Jack DeJohnette, der aus Hihat, Snare und Bassdrum verschachtelte Stop-and-go-Rhythmen zusammenbaute.
Es geht dieser Musik nicht um Entwicklung, sondern um Verdichtung. Ihre Aggressivität drängt nicht auf ekstatische Entladung, sondern auf das Zusammenfließen in einem einzigen energetischen Punkt. Nur muss sie sich dafür in der Zeit ausdehnen: von den Themen her zerfasert bis auf ein paar Signaltöne, aber harmonisch schon so angelegt, dass sie kaum vom Fleck kommt. Michael Hendersons Bass pumpt sie stur durch zehn, zwanzig, dreißig Minuten. Er war Davis’ zuverlässigster Verbündeter im Kampf gegen das verhasste Jazzvirtuosentum.
Die „On the Corner“-Sessions nehmen zwischen Dschungel und Wüste einen Zwischenstatus ein. In einer hitzigen Trance Music überlagern sich hier Drum-’n’-Bass-Schichten mit indischen Tablas und Sitars und Überresten einer in den Hintergrund gedrängten Jazzornamentik, in die auch Miles’ Trompete nur noch als Spur zu finden ist.
Aber es ist noch durch und durch Miles Davis’ eigene Musik. Im letzten Abschnitt seiner Karriere, in den achtziger Jahren, war sein Verlorenheitston oft nur noch eine unverwechselbare Farbe in einer spannungslosen, zum Smooth Jazz tendierenden Umgebung. Er selbst hatte die Mauern zwischen den Genres eingerissen, doch so, wie Rock und Jazz jetzt gegenübertraten, waren sie egalisiert, nicht radikalisiert.
Für die „Complete On the Corner Sessions“ gilt wie für das Gros der neu zutage geförderten Aufnahmen, dass harte Davisianer ohne sie etwas verpassen, alle, die es erst noch werden wollen, mit den bisherigen Macero-Destillaten aber gut leben werden. Die teils enervierende Vollständigkeit der Boxen ist dabei ein unüberwindliches Dilemma: Jede Auswahl hätte die Frage aufgeworfen, welche geheimnisvolle Variante nun wieder fehlt. Einen vollends unbekannten Miles Davis aber gibt es nicht. Es gibt nur einen durchaus fehlbaren, manchmal hilflos herumsuchenden Davis, der seine Band erst im dritten oder vierten Anlauf in Schwung bringt. Das Genie als Handwerker – auch das ist eine erhellende Erfahrung.
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