Bass muss sein: Techno dominiert die Popkultur - auch ohne Loveparade
Techno steht nach wie vor für Hedonismus, Freizügigkeit und ein gesteigertes Körperbewusstsein. Er gilt vor allem aber auch weiterhin die Metapher für die gesellschaftliche Modernisierung, für ein Leben in und mit der digitalen Welt, für die Cyborgisierung des Menschen.
Das hat sich der DJ und Technoproduzent Maximilian Lenz alias Westbam vermutlich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt: dass er mit seinem jüngsten Album als Prophet des Untergangs gelten könnte, als Visionär einer Apokalypse. „A Love Story 89 – 10“ heißt das Werk, mit dem er ein Ende seines Liebesparaden- und Rave-Daseins markieren wollte, das aber nun nach den schrecklichen Ereignissen von Duisburg wie ein Fanal wirkt.
Obwohl Westbam in den letzten Tagen betont hat, dass der Albumtitel nur ein persönlicher Abschied sei, er sich auf Großraves und Veranstaltungen wie der Loveparade nicht mehr wiederfinden, geht nun nach Duisburg häufig die Rede, dass mit dem Ende der Loveparade gleich eine ganze Popkultur verabschiedet werde: die Rave- und Clubkultur, der Techno, das ewige Bumbumbum.
Darüber wundern sich nun diejenigen, die es sowieso besser wussten und sich schon Ende der neunziger Jahre indigniert von den Loveparade-Massen vor der Berliner Siegessäule abwandten. Für sie hatte der Techno, wie sie ihn verstanden und mochten, nichts mehr mit dem Ballermann-Techno der Loveparade und dem Großteil des Loveparade-Publikums gemein. Für sie war Techno schon lange nicht mehr die erste Jugendkultur der neunziger Jahre, „die primär nichtnationalistisch, nichtrassistisch, nichtsexistisch und nicht gewalttätig ist“, wie es der Technobuchautor Patrick Walder einmal ausdrückte.
Den „Stumpfsinn der kommerziellen, alkoholschwangeren Ballermann-Raves“ beklagte nun gestern auch die „Frankfurter Rundschau“, um den neuerlichen Gang mancher Technoprotagonisten in den Underground zu feiern: „Techno wurde hier wieder eine lebendige Popkultur, die mit den Loveparades nichts mehr zu tun hatte“. Euer Pop ist nicht unser Pop, die gute alte Popdistinktion eben.
Tatsächlich galt Techno in den nuller Jahren nicht mehr als besonders avancierteste Popmusik. Techno florierte zuletzt als Nischenkultur, hatte sich aber schon zu seinen großen Zeiten Mitte, Ende der neunziger Jahre in zahlreiche Subgenres verzweigt. So konnte man seinerzeit etwa auf der Website des Technolabels Force Inc lesen, was dort alles für Spielarten herauskamen: Techno, Minimal Techno, Phunky Techno, Hardhouse, Sägezahn, Deep House, Disco House.
Einen Groove für eine einzige Nation gab es da nie, was aber weder die Macher der Loveparade störte und noch weniger die immer größer werdende Anzahl an sogenannten Ravern, für die der Ausverkauf einer Subkultur und ihre zunehmende Kommerzialisierung sowieso kein Thema war. In ihren besten Momenten aber schaffte es die Loveparade, die vielen Technostämme unter ihrem Dach zu vereinen, und wenn das erst nachts in den zahlreichen Clubs passierte. Die Berliner Loveparade trug zwar bei ihren letzten Ausgaben 2002, 2003 und 2006 etwas Desperates, da waren Tendenzen zur Totalverprollung unverkennbar. Ihrer Anziehungskraft, das bewies der ungebrochene Zulauf bei den Wiederauflagen der Parade im Ruhrgebiet, tat das keinen Abbruch.
So wie einst Punk seinen Siegeszug um die Welt antrat und mit seiner Do-It-Yourself-Ästhetik nicht nur die Popkultur, sondern die gesamte Kultur und Gesellschaft verändert hat (und in seiner schlimmsten Ausprägung heute als bettelnder Lotterpunk sein Unwesen treibt und höchstens Mitleid erzeugt), so hat das auch Techno mit seinen angeschlossenen Szenen vermocht. Techno steht nach wie vor für Hedonismus, Freizügigkeit und ein gesteigertes Körperbewusstsein, für Ekstase, Feierschweinereien und das Glück auf Tanzflächen, er gilt vor allem aber auch weiterhin die Metapher für die gesellschaftliche Modernisierung, für ein Leben in und mit der digitalen Welt, für die Cyborgisierung des Menschen.
Ganz selbstverständlich war in den Medien nach dem Duisburger Unglück von „den Ravern“ die Rede – und selbst wenn „der Raver“ mit seinem zackig aufgestellten Kurzhaar, seinen Buffalos und seinem Camouflage-Outfit (wahlweise enge weiße Hose, freier Oberkörper) inzwischen etwas von einer Karikatur hat: Er ist munter unterwegs und im Hauptberuf Jurist, Unternehmensberater, ntv-Reporter, Zahnarzthelferin oder Big-Brother-Container-Bewohner. Und das große, eher undifferenzierte Bumbum hört man als Soundtrack gerade in den ländlichen Regionen, man denke nur an die Bässe, die aus den mal mehr, mal weniger frisierten Autos erklingen, die in Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern über die Landstraßen brettern.
Trotz Loveparade-Ende wird Berlin mit seiner weitverzweigten Clubkultur Sehnsuchtsort Nummer eins vieler Easyjet-Touristen bleiben, werden hier weiterhin Techno-Hipster und Raver ihre jeweiligen Locations finden und sich manchmal auch begegnen. Gerade das in den vergangenen Jahren viel gerühmte, viel beschriebene Berghain ist zum obersten Repräsentationsort einer Feier- und Eventkultur geworden, ein touristischer Sightseeingort und Muss für jeden Berlinbesucher darüberhinaus. Wer nur einmal an einem Wochenende vor dem Berghain stand (oder besser: aus dem Berghain heraus an der Menschenschlange vorbeiging), dürfte bemerkt haben, wie wenig die meisten Besucher einer bestimmten Szene zuzuordnen sind, wie unauffällig individualisiert viele sind, wie gerade hier „Jugendkultur“ nicht im Alter von 30 oder 35 aufhört, wie hier überhaupt Distinktion keine Rolle spielt (und nur die Türsteher ihre manchmal sehr geheimnisvollen Auswahlkriterien haben).
So wie es früher schwer war, die Technobewegung auf einen Nenner zu bringen, sich hier unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppierungen einfanden, so ist auch heute die Techno- und Clubkultur eher ein gesellschaftlicher Querschnitt als eine bestimmte, klar abgrenzbare Szene.
Was dann übrigens im Innern des Berghains für DJs auflegen, welche Art von House oder Techno gespielt wird, ist meist zweitrangig, es wird schon ordentlich wummern und abgehen. Zumal die House- und Technobeats die Mainstream-Popkultur zunehmend dominieren. Natürlich lebt die „wahre Technokultur“, der fortschrittliche Techno in kleineren Clubs und Nischen weiter, sind die bis ins Mark verfeinerten Auskenner unter sich, gibt es für Veröffentlichungen von Technoproduzenten wie Tiefschwarz, Wighnomy Bros, Pantha du Prince oder vom Kölner Kompakt-Label nicht mal eine Feuilletonöffentlichkeit – aus Pop-Genres wie Rock, Indie, HipHop oder R&B sind Technobeats aber nicht mehr wegzudenken. Da funktionierten Anfang der nuller Jahre Remixe von Tocotronic- oder Blumfeld-Songs genauso wie plötzlich ganz New York mit Gitarrenbands wie The Rapture und Radio 4 oder dem LCD Soundsystem tanzen wollte. Und da braucht man nur einmal auf ein Konzert der einst als Hip-Hop-Gruppe firmierenden Black Eyed Peas zu gehen und fühlt sich wie auf einer Technoveranstaltung – oder man hört das neue Album der R&B-Sängerin Kelis. Techno ist überall.
Alle drängen mit den geraden, schnörkellosen Beats in die Clubs, Tanzfähigkeit gilt als oberstes Primat. „We’ll never stop living this way“, hat Westbam in seiner Sturm- und Drangzeit einmal getitelt. Das sieht er heute wohl anders. Für ein Wochenende oder zumindest eine Nacht jedoch ist die Attraktivität dieses Sprüchleins nach wie vor ungebrochen.
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