Elektronische Musik: Schiller: Der helle Klang
Sarah Brightman und Xavier Naidoo haben schon für ihn gesungen. Stiller Superstar, sechstes Studioalbum: ein Hausbesuch bei dem Elektromusiker Schiller.
Im Hauseingang hängt ein Zettel. „Liebe Nachbarn“ steht dort in Großbuchstaben geschrieben, und darunter erklärt ein Mieter, dass er an diesem Tag noch Gäste erwartet: „Es kann sein, dass wir für circa 20 Minuten Musik hören. Dies wird voraussichtlich vor 20 Uhr der Fall sein.“
Freitagabend in Friedrichshain, sanierter Altbau, dritter Stock. Im ganzen Treppenhaus findet man genau eine Fußmatte, die an einer Seite am Türrahmen ausgerichtet ist und mit der anderen an der Flurwand. Perfekter 90-Grad-Winkel. Willkommen in der Welt von Schiller.
Eigentlich heißt der Mann Christopher von Deylen. Und eigentlich hat er zwei Dutzend Journalisten geladen, zu sich nach Hause, um ihnen Songs seines neuen Albums vorzuspielen. Doch als es so weit ist, als die Gäste sich im Wohnzimmer verteilt, auf Stühlen, Sofa und Sitzsack Platz genommen haben und als die ersten Töne aus den mannshohen Lautsprechern klingen, da ist Christopher von Deylen bereits in den Flur geflüchtet. Es war ihm unangenehm, wird er später sagen. Denn wenn von Deylen seine eigenen Songs hört, dann hört er vor allem, was er noch hätte anders machen können.
„Atemlos“ heißt sein neues, inzwischen sechstes Studioalbum. Falls nicht alles schiefgeht, steht es bald auf Platz eins der Charts, so wie der Vorgänger „Sehnsucht“. Die Konzerte seiner Tour werden ausverkauft sein, so wie die der vorangegangenen. Christopher von Deylen kann vor allem Gründe aufzählen, warum dieser Erfolg im Prinzip gar nicht möglich ist. Die Lieder sind viel zu lang! Es wird zu wenig gesungen! Und Hits fürs Radio sind auch kaum dabei!
Was er nicht sagt: dass jeder seiner Songs als großer Wurf konzipiert ist. Getragen von einer hellen, eingängigen Melodie, die einen sofort berühren kann, manchmal auch überwältigen, gleich beim ersten Reinhören. Es sind elektronische Hymnen, und Schillers Bezugspunkte heißen Jean Michel Jarre, Tangerine Dream, Kraftwerk. Wegen der Ethno-Einflüsse hat ihn die Musikpresse ungefragt zum „Meister des Global Pop“ gekürt. Er selbst versichert glaubhaft, er habe niemals die Absicht gehabt, Musik für die Charts zu produzieren – und dass er immer bloß Angebote mache. Auf seinem Balkon hat Christopher von Deylen heute Abend ein paar Decken hingelegt: „Für die Menschen, die glauben, dass Rauchen sinnvoll ist“, sagt er.
Es ist wieder ein Doppelalbum geworden, mit 29 Stücken plus DVD. Die Songs klingen gleichzeitig reduziert und bombastisch. Auf „Atemlos“ wirkt nichts unüberlegt, nichts unfertig.
Von Deylen hat eine Theorie: Jeder Schaffensprozess könne nur eine Annäherung darstellen an den Punkt, an dem man sich so wenig wie möglich für sein Werk schämt. Es gibt viele Perfektionisten in der Musikindustrie, aber kaum welche, die ihre Getriebenheit so unumwunden zugeben: „Man hört ja gerne, wenn der Bohemian sagt: ,Go with the flow.‘ Aber nein, so ist es bei mir nicht.“
Der Berliner singt nie selbst, er leiht sich Stimmen, die passen. Sarah Brightman, Ben Becker und Xavier Naidoo haben auf früheren Platten mitgewirkt, für „Atemlos“ reiste von Deylen unter anderem nach Südengland, zu Midge Ure, der pathetischen Stimme von Ultravox. Anna Maria Mühe ist bereits zum zweiten Mal dabei, und Jaki Liebezeit, der Can-Schlagzeuger, hat furios für ihn getrommelt. Einer verweigert sich bis heute: Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Den fragt Schiller immer wieder an, weil es kaum männliche Stimmen gebe, die ihn wirklich bewegten. Einmal schickte er Tennant drei seiner Songs, die Antwort kam prompt: Das sei „wonderful German Kitsch“, doch leider habe er momentan keine Zeit.
Von Deylen wird dieses Jahr 40, und er sagt, er will noch nicht ankommen, noch lange nicht. Deshalb geht er auf Reisen. Vor dem letzten Album fuhr er im Volvo von Berlin bis Kalkutta. Diesmal war er in der Arktis. Vier Wochen an Bord des Forschungsschiffs Polarstern, von Spitzbergen Richtung Nordpol, dann nach Süden an der Küste Grönlands vorbei, bis nach Reykjavík. Letzten Juli war das, im Sommer bleibt es dort rund um die Uhr hell, und nur feste Mahlzeiten geben dem Tag Struktur. Die Arktis ist ein Ort, an dem Menschen im Grunde nichts zu suchen haben, sagt von Deylen. Als ein Mitfahrer den Newsletter der „Tagesschau“ ausdruckte und dort die Schlagzeile „Quelle-Katalog wird gedruckt“ stand, da wurde ihnen klar, wie weit sie sich tatsächlich entfernt hatten.
Der Musiker war Teil eines Bremer Forschungsteams, durfte einen Tauchroboter lenken. Das ist wie in einer Band spielen, sagt er: Man probt, guckt, dass man seine Instrumente beisammen hat, und am Ende gibt es eine Show. Sechs Mann brauchte es, um den Roboter bis auf den Meeresgrund zu lenken. Von Deylen hatte an Bord bald einen Sonderstatus, aber nicht wegen der vielen verkauften Alben. Sondern weil er als Einziger einen kleinen Espressokocher eingepackt hatte.
In seiner Kajüte richtete er sich ein Ministudio ein, er hätte am Keyboard sitzen und durch Bullaugen gucken können. Benutzt hat er es kaum. Die Arbeit begann erst zu Hause. Und doch klingt „Atemlos“ eben genau so: lichtdurchflutet, weitläufig, raumgreifend, aufgeräumt.
Die Stärke von „Atemlos“ ist vielleicht auch seine einzige Schwäche. Denn es fehlen die rätselhaften, verstörenden Momente, nirgendwo muss man sich reinhören, alles versteht sich. Böse Menschen könnten diese Songs für Telefonwarteschleifen missbrauchen. In Christopher von Deylens CD-Regal in Friedrichshain, gleich neben dem Sitzsack, stehen auch die Alben von The KLF und Prodigy. Irgendwie wünscht man sich, dass er sich beim nächsten Mal zumindest Keith Flint ins Studio lädt.
„Atemlos“ erscheint am Freitag bei Universal. Am 30. Mai spielt Schiller in der Zitadelle Spandau.
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