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Interview: Nick Cave: "Ein Konzert ist Folter für mich"

Nick Cave schreibt von Liebe, innerer Leere, Sex und Besessenheit. Einige Frauen verabscheuen seine Fantasien – bei Kylie Minogue ist er sich nicht sicher. Ein Interview.

Ist die Welt schlecht, Mr. Cave?



Kommt auf die Perspektive an.

Nehmen wir Ihre.

Nun, ich habe zwei Perspektiven. Die Welt, in der ich tatsächlich lebe, und meine kreative Welt, meine Fantasiewelt. In meiner Fantasiewelt gehen die Dinge wohl eher schief.

Hängen die beiden voneinander ab? Je dunkler die eine, desto heller die andere?

Nein. Aber sie müssen auseinandergehalten werden.

Ist das schwierig?

Ja, manchmal. Aber je erfolgreicher meine Arbeit ist, desto besser kann ich mich davon distanzieren.

Aus Nick Cave, der in den 80ern mit den Einstürzenden Neubauten in Berlin wütete und jede Menge Drogen nahm, ist ein anständiger Familienvater geworden. Man hört, Sie folgen einem strikten Tagesplan, stehen zu einer festen Zeit auf, schreiben zu einer festen Zeit. Klingt ja fast nach Thomas Mann.

Ich denke, das ist ein bisschen übertrieben. Ich mache nie irgendwas strikt.

Am Tag, als ich las, wie die Hauptfigur Ihres Buches, Bunny Munro, in seiner verwüsteten Wohnung die erhängte Frau findet, kam ich nach Hause und meine Wohnung war überschwemmt.

Oh, ich dachte schon, Sie fanden Ihre erhängte Mutter.

Das hätte ich Ihnen nicht erzählt.

Haben Sie’s trocken gekriegt?

Ich will nicht ins Detail gehen. Aber es ist doch lustig, dass ich einen apokalyptischen Roman von Ihnen lese und dann passiert so was.

Tut mir leid.

Ich will Sie nicht damit belästigen.

Deprimierendes Interview.

Was haben Sie getan, wenn Sie am Boden waren? Wie kamen Sie wieder hoch?

Ich bin eigentlich ein ziemlich optimistischer Typ. Lange darüber nachzudenken, wie es mir geht, ist kontraproduktiv.

Bunny Munro ist Vertreter für Kosmetikartikel. Er massiert seinen Kundinnen die Hände, bevor er sie verführt. Er vernachlässigt seine Familie und denkt nur an Sex. Beim Begräbnisgottesdienst seiner Frau geht er onanieren. Ein echtes Ekel.

Oh ja.

Mögen Sie ihn?

Er ist mir sympathisch. Bis zu einem gewissen Punkt erkenne ich mich in ihm. Ich habe versucht, einen monsterhaften Charakter zu schaffen, in dem man etwas von sich entdecken kann.

Sie leben in Brighton. Bunny auch. Wollen Sie uns damit etwas sagen?

Ich lebe dort seit fünf Jahren. Ich kenne mich da ziemlich gut aus. All die Bezüge waren zur Hand.

Wie kam es zu dem Buch? Ich habe gelesen, dass es erst als Drehbuch gedacht war.

John Hillcoat, der für den Film „The Proposition“ Regie geführt hat …

… der Western, der im australischen Outback spielt. Sie haben das Drehbuch geschrieben und wurden dafür beim Filmfest in Venedig geehrt.

Hillcoat ist ein guter Freund von mir, aber wir arbeiten auch sehr effizient zusammen. Er bat mich, ein weiteres Drehbuch zu schreiben, einen kleinen englischen Film über einen Handelsreisenden. Wir leben beide in Brighton, darum haben wir uns entschieden, es dort anzusiedeln. Ich war nicht besonders interessiert an Handelsreisenden. Drehbücher schreiben ist eine Art Übung: Du schreibst etwas für jemanden anderen, das mag ich. Aber ich musste etwas an diesem Handelsreisenden finden, das mich interessierte. Also schuf ich Bunny.

Fühlen Sie sich wie ein fahrender Händler?

Ja, manchmal.

Es gibt Tage, an denen Sie nicht in der Stimmung sind, da rauszugehen und die Leute zu unterhalten?

Auf jeden Fall. Die größte Zeit des Tages fragst du dich, wie es möglich ist, das zu tun. Es ist undenkbar, dass du abends rausgehst und vor einer Halle voller Leute spielst.

Weil es so weit weg von Ihrem wirklichen Leben scheint?

Du machst dich selber fertig, du kannst dich auf den Tod nicht ausstehen.

Nach einer Weile auf Tour?

Ja, ja. Es geht irgendwie alles um Spekulation, um die Meinungen der Leute, ob es gut war oder schlecht. All das dumme Zeug wird irgendwie anstrengend, so dass das Letzte, was du tun willst, ist, dich selbst wieder in den Scheinwerfer zu stellen. Aber da ist etwas am Auftreten, das süchtig macht, und ich weiß jetzt, dass, sobald ich den Applaus höre, sich meine ganze Perspektive ändert und ich plötzlich in der Lage bin, aufzutreten.

Als ob ein Hebel umgelegt wird?

Ja, plötzlich ändert sich alles. Deshalb beunruhigt es mich nicht, jetzt gerade hier zu sitzen und zu denken: Das Letzte, was ich will, ist heute Abend eine Show zu geben. Denn ich weiß, wenn es so weit ist, werde ich es genießen und es wird mich davontragen. Das ist vor allem mit den Bad Seeds so. So ein Unplugged-Konzert mit Lesung wie heute Abend ist relativ leicht, weil es nicht körperlich ist. Ein Bad-Seeds-Konzert ist Folter. Du steigst die Stufen zur Bühne hoch und bist schon tot, bevor du oben bist. Aber da ist etwas am Auf-die-Bühne-Gehen, etwas an der Musik und am Spielen mit den Bad Seeds, etwas an der Beziehung zum Publikum, das dich erfüllt mit dieser irren und irgendwie falschen Energie.

Wieso falsch?

Es ist Energie, die du nicht wirklich hast, aber irgendwo entdeckst. Und – du kannst auftreten. Dann gehst du wieder von der Bühne und brichst am Boden zusammen und fragst dich: Wie habe ich das nur geschafft?

Was ist das Beste, das Musik je für Sie getan hat?

Sie hat mich davor bewahrt, einem Tagesjob nachzugehen. Ich liebe es, in einer Band zu sein, ich liebe es, Musik zu machen, ich liebe es, Songs zu schreiben. Es ist schwierig, aber ich würde es nicht für irgendwas anderes aufgeben.

Bunny ist krank, aber im Blick des Erzählers scheint auch die Welt um ihn herum aus dem Ruder: bedrohliche Teenager, kleine Mädchen in Stringtangas, ein Serienmörder mit Teufelshörnern. Das hat was Kulturpessimistisches. Wie der Blick eines älteren Mannes in Sorge über den Lauf der Dinge.

Bunnys Welt ist pessimistisch?

Nein, auch die des Erzählers ist pessimistisch. Ist das die Sichtweise eines sich sorgenden Vaters?

Das weiß ich nicht, aber ich denke, in gewisser Hinsicht ist die Welt krank geworden.

Inwiefern?

In dem, was man sieht. Was das Fernsehen einem zeigt und die Werbung und die Medien, das hat eine massive Wirkung auf die Kultur, und das ist zunehmend gestört. Bunny Munro ist für mich ein Produkt davon.

Man kann wirklich die Lust auf Sex verlieren, wenn man Ihr Buch liest. Hat die sexuelle Befreiung zur Diktatur des Sex geführt?

Weiß ich nicht. Bunny Munro ist gar nicht so sehr an Sex interessiert. Ich meine, er fühlt sich vom Sex besessen, aber ich denke, er ist eher eine verzweifelte Figur, er hat keine gesunde Beziehung zum Sex. Er benutzt Sex, um eine innere Leere zu füllen. Für mich ist er eher auf einem epischen Flug fort von Liebe und Intimität, den besseren Teilen unseres Lebens.

Aber die Welt um ihn ist beschrieben wie er selbst, da ist wenig Liebe zu sehen.

Tatsächlich ist der Sohn fähig, Schönheit in der Welt zu finden und Schönheit in seinem Vater. Er liebt ihn, wissen Sie?

Und das hilft?

Nun, Bunny Munro ist ein Monster, aber er ist noch immer fähig, in Leuten Liebe auszulösen. Das ist in gewisser Weise sein Problem.

Warum?

Er hat nicht gelernt, Nähe zu teilen, zu lieben und Liebe anzunehmen. Es ist schmerzhaft für ihn, mit seinem Sohn zusammen zu sein. Ich meine, er versteht nicht, dass er echt keinen Durchblick bei irgendwas hat. Auf unbewusster Ebene ist sein großer Feind nicht dieser Serienmörder, der über die Buchseiten läuft oder die Frauen oder deren Männer, die ihn zusammenschlagen. Es ist sein kleiner Junge, der ihn bedingungslos liebt.

Ist das ein moralisches Buch?

Hm, ja.

Wie die Moral aus Don Juan: Fleischliche Lust führt ins Verderben?

Ich weiß nicht. Es ist eher meine eigene Moral.

Und die wäre?

Ich weiß nicht wirklich, was die Moral ist, aber das Buch macht einem zumindest ein paar Angebote. Es gibt zum Beispiel einen gewissen Typus englischer Männer, auf dem eine ganze Kultur gründet: die Boulevardblätter, viele Männermagazine, all das. Die Medien lieben diese Sorte Good Time Guy, als der Bunny Munro ja beginnt. Aber unter seiner Weltsicht steckt ein masochistischer Zug, wie in diesen Männermagazinen. Ich denke, dass das eine Macht ist, die in uns Männern steckt, und ich habe versucht, mich ihr zu stellen.

Bunny Munro wirkt auch wie aus der Zeit gefallen. Er trägt bunt gemusterte Hemden und Krawatten und hegt eine Schmalzlocke, wie in den 70ern. Einmal nennt eine Frau ihn einen Dodo. Das ist ein australischer Vogel, der traurige Berühmtheit erlangte, weil er einfach nicht überlebensfähig war.

Er ist ein Anachronismus. Auf der einen Seite ist er ein Produkt der modernen Welt, aber auf der anderen Seite ist er auch irgendwie altmodisch. Er passt nicht wirklich rein.

Für ihn ist kein Platz auf der Welt?

Doch, ich denke, es gibt schon einen Platz für ihn, leider.

Die Frauen in diesem Buch sind auch bedrohlich. Eine Taekwondo-Meisterin bricht Bunny die Nase. Befinden wir uns in der sexuellen Aufrüstung?

Nun, diese Dame repräsentiert eine Sorte Frau, die in der Lage ist, sich gegen diese Mentalität zur Wehr zu setzen.

Verschiedene Popstars tauchen in Bunnys Träumen auf. Die Hotpants von Kylie Minogue, die Vagina von Avril Lavigne. Dann noch Naomi Campbell, Kate Moss …

… die Klitoris.

Bitte?

Er träumt von Avril Lavignes Klitoris.

Oh ja, Verzeihung. Ich nehme an, es hat eine Menge Spaß gemacht, das zu schreiben.

Es war ein uneingeschränktes Vergnügen.

Sie haben sich öffentlich bei Avril Lavigne und Kylie Minogue entschuldigt. Mit Minogue sind Sie seit Ihrem Duett „Where the Wild Roses Grow“ von 1996 befreundet.

Weiß nicht, ob wir es noch immer sind.

Jetzt nicht mehr?

Ich weiß nicht, ob sie mein Buch gelesen hat, ich hab’ noch nichts von ihr gehört.

Die Entschuldigungen waren sicher Teil des Witzes. Die haben Sie doch nicht ernst gemeint.

Doch, ich wollte niemanden beleidigen. Ich mag Kylie und Avril Lavigne. Es war, wie jeder weiß, nur einer meiner Späße. So ist eben mein Humor.

Eine Frau fehlt in Bunnys Fantasien: Madonna. Warum taucht sie nicht auf?

Ähm ... Ich denke nicht, dass Madonna die Sorte Frau ist, die Bunny antörnt.

Warum nicht?

Weil Bunny ein schwacher, aber lüsterner Charakter ist. Und Avril Lavigne und Kylie Minogue verkörpern im Gegensatz zu Madonna ein Muster von Unschuld, das darauf wartet, entehrt zu werden.

Madonna lässt keinen Raum für Fantasien. Sie hat die volle Kontrolle.

Nun, Madonna wird durch die Medien präsentiert als mächtige Frau, sexuell befreit, stark, und ich denke, diese Sorte Frau macht Bunny Munro Angst. Übrigens, was an diesem Buch für mich interessant war, war die Reaktion von Frauen darauf. Es gab Frauen, die von dem Buch wirklich angepisst waren und darin einfach ein Stück machistischen Mülls sahen. Und manche Frauen kamen zu mir und sahen das Buch als feministischen Roman, ein Buch, das wirklich einen Teil der männlichen Psyche freilegt, von dem sie immer geahnt haben, dass es ihn gibt. Es gab auch einige skurrile Reaktionen.

Zum Beispiel?

Einige Frauen haben gesagt, sie finden Bunny Munro irgendwie sexy.

Ach. Sie haben die Unschuld an ihm entdeckt, die entehrt werden will?

Viele Männer haben zu mir gesagt, dass sie wirklich etwas von sich selbst in diesem Charakter erkannt haben, was meine Absicht war. Und andere, denen ich das nahegelegt habe, fühlten sich angegriffen. Ich sagte zu einem Deutschen, der mich interviewte: „Schau, du hast eine Seite von ihm in dir“, und er rief: „Nein! Hab ich nicht!“

Ist Bunny ein Künstler? In der Art, wie er konsequent seinen Leidenschaften folgt?

Ich denke, er ist kein Künstler. Er hat keine Fantasie. Er hat keine sexuelle Fantasie. Das Beste, was er kann, ist, sich eine Vagina vorzustellen.

Wenn Sie einen Ihrer Sinne opfern müssten, welchen würden Sie geben?

Mein Gehör.

Ihr Gehör?

Ja. Ganz sicher.

Warum?

Weil ich liebe, was ich sehe, und hasse, was ich höre.

Aber dann gäbe es keine Musik für Sie.

Ich komme ohne Musik klar. Ich finde die Geräusche dieser Welt manchmal schwer zu ertragen.

Und Musik ist Ihre Methode, Ordnung zu schaffen?

Nein, die finde ich auch oft ziemlich abstoßend. Ich höre vor allem Musik ohne Gesang: Jazz oder Klassik. Das finde ich weitaus angenehmer.

Interview: Kolja Reichert

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