Nachruf: Michael Jackson: Who was it?
Du kannst sein, wer immer du willst: Das war seine Botschaft. Er stand für die totale Freiheit – die Freiheit der Illusion. Und merkte nicht, dass er genau darin gefangen war. Zum Tod von Michael Jackson
Für Popstars gibt es keine Psychoanalyse. Das ist die Tragödie Michael Jacksons, des Kind gebliebenen Mannes mit Peter-Pan- Syndrom. Der Blick in die eigene Seele war ihm versperrt. So jagten ihn die dort ausgewilderten Dämonen durch ein Leben, das an Exzentrik, Liebenswürdigkeit, Reichtum und Missgunst seinesgleichen sucht. Vorgestern ist es mit 50 Jahren plötzlich zu Ende gegangen. Der erfolgreichste Entertainer aller Zeiten wurde am Donnerstagmittag leblos in seinem gemieteten Haus in Bel- Air aufgefunden und sofort ins nahe gelegene Universitätskrankenhaus gebracht. Dort konnte nur noch der Herzstillstand festgestellt werden. Die Todesursache ist bislang ungeklärt.
Doch Amerika hat sich bereits festgelegt: Michael Jackson sei an „gebrochenem Herzen“ gestorben, schallt es überall aus den US-Medien. So sentimental diese Floskel klingen mag, ganz falsch dürfte die Annahme nicht sein, dass für Jackson mit der Beinahe-Verurteilung als Kinderschänder 2005 mehr als nur eine Welt zusammenbrach. Da – spätestens – platzte der Traum von einem anderen Leben, das er sich, aber nicht nur sich, als das große Pop-Versprechen gegeben hatte: Du kannst sein, wer immer du willst.
Das war die Botschaft dieser bizarren androgynen Erscheinung, halb Vampir, halb Engel, als Jackson Anfang der achtziger Jahre seine märchenhaften Erfolge feierte. Wer ist da nicht verblüfft und begeistert mitgerissen worden von dem schwerelosen Moonwalker, der so vieles zusammenführte, was nicht zusammenpasste? Er schnürte die Identitätskorsage auf, die einen zum Gefangenen sozialer Zwänge macht. Sogar Hautfarbe wollte er nicht mehr gelten lassen, sang "it don't matter if you're black or white" und verwandelte sich in einem monströsen bionischen Akt in das bleiche, neu geschnittene Antlitz einer Puppe. Er stand für die totale Freiheit, wie sie auch Disney mit seinen der Schwerkraft trotzenden, gegen jede Verletzung immunen Comicfiguren verkörpert; wie sie in Lewis Carrolls Erzählung von „Alice im Wunderland“ aufscheint – die unbegrenzte Freiheit der Illusion also. Nur Jackson selbst schien das nie wahrhaben zu wollen.
Aber wie hätte er auch erkennen sollen, das ihm sein fantastisches Leben gestattet wurde, solange es Fantasien produzierte? Seit Michael Jackson zehn Jahre alt war, stand er im Rampenlicht. Unmöglich für ihn zu sehen, dass seine Sonderrolle von Menschen abhängig war, die etwas von ihm haben, aber selbst so normal bleiben wollten, wie sie es immer waren. Unmöglich auch deshalb, weil sein Ruhm als Popstar – anders als der von Hollywood-Schauspielern – nicht auf einer Verabredung zwischen Publikum und Akteur fußte. Es blieb stets vage, undurchdringlich, ob er eine Rolle spielte oder sich selbst darstellte. Diese Indifferenz von Fiktion und realer Person hat Jackson auf die Spitze und ins Groteske getrieben. Am Ende hat er über 750 Millionen Platten verkauft und ist zur populärsten Figur des Erdballs geworden, aber niemand wusste, wer er war und wie es um ihn stand. Sogar sein früher Tod kommt der Legendenbildung entgegen. Dieser Mann lebte im Mythos.
Nach Verbreitung der Todesnachricht stellten amerikanische Sender noch am Nachmittag ihr Programm um, mehrere Internet-Server brachen unter dem Ansturm zusammen, und bei Amazon belegten die Jackson-Alben in den Verkaufs- Charts binnen Stunden diePlätze eins bis zehn. Menschenmengen versammelten sich in der Trauer um das Idol. An zwei Orten strömten sie weinend zusammen: in Los Angeles vor dem Krankenhaus, aus dem Jacksons Leichnam zur Obduktion nicht anders als mit dem Hubschrauber gebracht werden konnte; und vor dem Apollo-Theater in Harlem, New York, wo Jackson im Alter von elf Jahren erstmals öffentlich aufgetreten war.
Geboren am 29. August 1958 in Gary, Indiana, wächst Jacko in eine Familie hinein, die bereits sechs Kinder versorgen muss. Nach ihm werden zwei weitere folgen. Vater Joe ist erst 31, hat sich als Boxer versucht, dann aber einen Job als Kranfahrer in einem Stahlwerk angenommen. Beide Eltern schuften hart in Doppelschichten. Trotz ihrer Jugend wollen sie es besser machen als ihre eigenen Eltern und ihre Kinder nicht sich selbst überlassen. Das Regime des Hobbymusikers Joe ist unnachgiebig und brutal. Aus seinen Söhnen formt er die Jackson 5, als die das Talent zu einer großen Karriere im Showgeschäft erkennen lassen. Aus purem Vergnügen wird Michael, der jüngste Spross in der Truppe, Musik nie machen. Er ist deren Hauptattraktion.
Mutter Katherine schwärmt über ihren Sohn, dass er sich „nie so unkoordiniert bewegt“ habe, wie Babys das für gewöhnlich tun. „Wenn er tanzte, sah er wie ein Erwachsener aus.“ Und Soul-Sänger Smokey Robinson wird später sagen, er habe „eine alte Seele im Körper eines Kindes“ gesehen.
Mit „I Want You Back“ landen die Jacksons 1969 ihren ersten Nummer-1-Hit und werden zur festen Größe im Motown-Stall. Die Crossover-Philosophie dieses legendären Soul-Labels aus Detroit, das die Musik der Schwarzen auch dem viel zahlungskräftigeren weißen Publikum zugänglich machte, wird Michael mit jeder Faser verinnerlichen. Auch er hat immer Musik für alle im Kopf.
Als er 1972 seine erste Solo-LP als Kinderstar herausbringt, ist er noch dem Detroiter Soul-Klassizismus verhaftet, obwohl er die rebellischeren Sly & The Family Stone mehr schätzt. Doch je stärker sich die Siebziger in Genres und scharf gegeneinander abgegrenzte Szenen segmentieren, desto energischer will Jackson die losen Enden wieder zusammenführen. 1979 gelingt ihm das zum ersten Mal mit „Off The Wall“, einer Platte, mit der er sich auch von seiner Familie emanzipiert. In Kooperation mit dem Produzenten und Jazzmusiker Quincy Jones lässt Jackson Rockgitarren auf Disco-Beats krachen, nimmt R ’n’ B-Elemente und entschlackt sie so weit, dass sie zum reinen Pop-Ohrwurm werden. „Don’t Stop ’Til You Get Enough“ heißt die Single, die Jackos zweite Karriere einleitet. Dass der Knabe mit der hellen Stimme jemals genug kriegen könnte, ist schon damals nicht zu hoffen.
Es folgt ein Dasein im Superlativ. Das zweite Album „Thriller“ verkauft sich ab 1982 öfter als jedes andere Werk der Musikgeschichte. Jackson wird der höchstdotierte Plattenvertrag aller Zeiten angeboten, und er tritt vor mehr Menschen auf als jeder andere. Durch ihn, der im Dreigestirn mit Madonna und Prince den Musikgeschmack der achtziger Jahre diktiert, erlebt die Plattenindustrie ihre Glanzzeit. Nie wieder werden einzelne Künstler so viel Geld scheffeln und Musikmanager so verschwenderisch mit Budgets umgehen wie rund um die Einführung der CD als Tonträger 1982. Allerdings wäre Jacksons sagenhafter Aufstieg ohne die Erfindung des Musikkanals MTV nicht möglich gewesen. Liefert es dem Träumer doch genau die Plattform, die dieser für seine Versteckspiele braucht.
Vor der MTV-Ära hat sich die Verehrung der Idole „auf das beschauliche Zurechtzimmern eines Bildes“ beschränkt, „das von der Distanz zwischen Fan und der bewunderten Person lebte“, wie der Musikkritiker Thomas Lau einmal schrieb. Die Musikvideos und Reality-Formate, mit denen MTV seine Kundschaft überschwemmt, heben die Distanz auf. Das neurotische Medium spornt Jackson an, hinter immer grandioseren Inszenierungen Schutz zu suchen. Dass er um den Preis der Verstellung durchaus weiß, demonstriert der „Thriller“-Clip. An dessen Ende mutiert der Sänger, der das Böse in einem Tanzduell mit einer Horde Monster zunächst abwehrt, selbst zum Zombie.
Ein Untoter ist er danach fürwahr. Auch wenn er mit „Beat It“ gleich die Anleitung mitliefert, wie Schwierigkeiten aus der Welt zu räumen sind. Weit davon entfernt, als One-Hit-Wonder in die Musikgeschichte einzugehen (wie auch mit 14 auf Nummer 1 platzierten Singles), kann er musikalisch dennoch nicht an den Meilenstein „Thriller“ anknüpfen. „Bad“ greift das Thema gefährlicher Mächte auf, ist härter und noch verwegener in seinem düsteren, gewaltverliebten Proto-Pop („Smooth Criminal“). Immer opulenter geraten ihm die Maskeraden. Auf dem Cover von „Dangerous“ blickt einem nur noch Jacksons Augenpaar entgegen. Der Rest seines Gesichts ist hinter einer Zirkusszenerie verschwunden.
Auch privat nutzt der Megastar seinen unermesslichen Wohlstand, um sich weiter von der Welt abzukapseln. Die „Neverland Ranch“ außerhalb von Los Angeles richtet er als Märchenland ein. Samt Zoo und Vergnügungspark und einer Ehefrau, Lisa Marie Presley, die seine Ansprüche auf den Königsthron des Pop auch dynastisch untermauert. Die Ehe hält 20 Monate.
Schon als Junge, der eigentlich seine Pubertät hätte ausleben müssen, zeigte er sich abseits der Bühne verängstigt, scheu und gekränkt. Dass er keine Kindheit hatte, treibt ihn als Erwachsener dazu, sich zum Schutzheiligen der Kinder aufzuschwingen. Mit den leidlich bekannten Folgen: Wiederholt wird der in seinem goldenen Käfig singende Paradiesvogel mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs konfrontiert und vor Gericht gezerrt. Jedesmal kommt er knapp davon. Das dezimiert nicht nur sein Vermögen und macht den Star gegen Ende seines Lebens zum Almosenempfänger, der wie ein abgesetzter Diktator ins Exil geht und von den Zuwendungen seiner Verehrer lebt. Sein Sturz wird sogar mit Schadenfreude quittiert. Denn das Süße und Niedliche ist weg, das seinem Bemühen um ein seliges Utopia voller Zuneigung und Wärme („We are the World“) Sinn verliehen hätte. Zur Veröffentlichung der Best-of-Compilation „HIStory“ lässt er eine Statue von sich errichten, wie es tatsächlich nur Despoten tun.
Jacko, der Freak. Auch wer ihm die Pose als Wohltäter nicht abnimmt, wie die Feministin Camille Paglia („Er ist nicht ehrlich. In Jackson müsste eine große Portion Wut stecken“), muss ihm zugestehen, dem kleinen Wörtchen Pop die Macht verliehen zu haben, auf die sich auch zehn Jahre nach seiner letzten Platte weite Teile der Unterhaltungsindustrie stützen. Man kann Jacksons Einfluss auf die Kulturgeschichte deshalb gar nicht hoch genug einschätzen.
Dass Michael Jackson wenige Wochen vor einem erneuten Comeback-Versuch gestorben ist, deutet den Druck an, unter den er sich stets gesetzt hat. 50 Shows wollte er in London spielen und die O2-Arena in sein Las Vegas verwandeln. Alle waren sie ausverkauft. Was sonst?