Zum 70. Geburtstag: John Lennon - Der Weltverbesserer
Es war mehr als Rock’n’Roll: Bloß Musiker zu sein reichte ihm nicht. Heute wäre John Lennon 70 Jahre alt geworden.
Der Anfang: ein Schrei. Er wird am 9. Oktober 1940, morgens um 6.30 Uhr, geboren, als – schreibt er später in abenteuerlicher Orthografie – „die Nazimiefs unter Adoof Hitzler uns noch bombastierten“. Am Abend vor und am Abend nach seiner Geburt greift die deutsche Luftwaffe Liverpool an. Der Junge wird auf den Namen John Winston Lennon getauft. Sein zweiter Vorname ist eine patriotische Referenz an Premierminister Churchill. Als Lennon 1970 das Buch „Der Urschrei“ von Arthur Janov zugeschickt bekommt, ist er sofort interessiert. Er nimmt mit dem Autor, einem amerikanischen Psychotherapeuten, Kontakt auf und beginnt in dessen Praxis, seine Kindheit aufzuarbeiten. Als Lennon fünf war, hatte die überforderte Mutter ihn zu seiner Tante Mimi gegeben. Die Mutter starb bei einem Unfall, da war er 18. Nach seiner Urschreitherapie schreibt Lennon den Song „Mother“, der ein einziger Aufschrei ist: „Mother, you had me but I never had you.“
Das Ende: fünf Schüsse. Mark Chapman gibt sie am 9. Dezember 1980 um 22.51 Uhr aus nächster Nähe auf John Lennon ab, der gerade vor seinem New Yorker Appartement-Haus, dem Dakota Building, einer Limousine entstiegen ist. Sechs Stunden vorher hat sich der Attentäter, ein von Psychosen heimgesuchter ehemaliger Sicherheitsmann, von Lennon ein Autogramm geben lassen. Er tötet den Star, weil er hofft, dadurch berühmt zu werden. Auch Liz Taylor, Jackie Kennedy und Ronald Reagan stehen auf Chapmans Todesliste. Er hat sich für Lennon entschieden, weil der Zugang zu ihm am einfachsten ist. „Ich bin getroffen“, sind Lennons letzte Worte. „Weißt du, was du da getan hast?“, schreit der Portier. „Ich habe eben John Lennon erschossen“, antwortet Chapman. Anschließend setzt sich der Mörder auf einen Bordstein, bis die Polizei eintrifft liest er demonstrativ in J. D. Salingers Rebellionsroman „Der Fänger im Roggen“.
Lennon würde heute 70 werden, und für den Musikmarkt ist er noch lange nicht tot. Zum Geburtstag erscheinen digital überarbeitete Versionen von acht seiner Soloalben. Das Projekt mit dem Titel „Gimme Some Truth“ soll an den Erfolg des remasterten Beatles-Gesamtwerkes anknüpfen, das weltweit die Hitparaden erobert hatte. Schönste Überraschung ist Lennons letzte Platte „Double Fantasy“, die auf Betreiben seiner Witwe Yoko Ono in einer klanglich entschlackten „Stripped Down“-Ausgabe herauskommt. Nun wirkt sie umso kraftvoller, mit Stücken wie „Starting Over“, „Watching the Wheels“ oder dem New-Wave-zackigen „Kiss Kiss Kiss“ signalisiert das dezidierte Pop-Album Lennons Abkehr vom Agitrock. Bei seiner Veröffentlichung im November 1980 wurde es verrissen. Das britische Musikblatt „NME“ mäkelte: „Fantasien für Über-Vierzigjährige“.
John Lennon war ein Verwandlungskünstler, er arbeitete mit Hingabe an der Zertrümmerung seines Images. Der Sohn eines Handelsmatrosen brach sein Studium an der Kunstakademie von Liverpool nach kurzer Zeit ab und stilisierte sich zum zynischen Idealisten. Später wurden seine verbalen Provokationen wie „Die Beatles sind größer als Jesus“ oder „Die Zuschauer auf den billigen Plätzen sollen klatschen, die anderen können mit den Juwelen klimpern“ legendär. Er mutierte vom Rocker in Lederkluft über den smarten Pilzkopf-Bandleader zum Friedensprediger mit Vollbart, Nickelbrille und Jesus-Frisur. Auf dem Höhepunkt seines „Power To The People“-Aktivismus wurde der Sänger, der seit 1971 in New York lebte, als Staatsfeind gehandelt und von FBI und CIA beobachtet.
Mit „Bed Ins“ demonstrierten Lennon und Yoko Ono für den Frieden, sein vielleicht schönstes Soloalbum „Mind Games“ enthielt 1973 die Gründungserklärung eines imaginären Staates namens „Nutopia“. Nutopia, hieß es da, habe kein Land, keine Grenzen, keine Pässe, „nur Menschen“. Lennons Weltverbesserertum wirkt rührend naiv. Sein Auftreten war charismatisch, aber in Wirklichkeit wurde er von Ängsten und Selbstzweifeln beherrscht. Die Bilanz am Ende der Urschreitherapie bei Arthur Janov fiel bitter aus: „Ich gab den anmaßenden, Macho-Allüren auslebenden, supertollen Rock ’n’ Roller und Witzbold mit all seinen Sprüchen – und dahinter kam ein verängstigter Typ zum Vorschein, der nicht mal wusste, wie man weint.“
Als Solokünstler hatte Lennon zunächst nur ein Ziel: Er wollte nicht mehr klingen wie ein Beatle. Den Pop-Bombast warf er über Bord, er hatte genug von monatelanger Studioarbeit und wollte zurück zu den Wurzeln. Das erste Beatles- Album „Please Please Me“ soll bis zuletzt seine Beatles-Lieblingsplatte gewesen sein, weil dort gewissermaßen noch der Schweiß der Live-Konzerte von Hamburg und Liverpool zu riechen war. Seinen Song „Instant Karma“ hat er am 26. Januar 1970 komponiert, aufgenommen und abgemischt – alles an einem Tag. Die Single erschien am 6. Februar und wurde tatsächlich ein Sofort-Hit.
Lennons Solowerk fällt auseinander. Neben betörend schönen Titeln wie „Oh My Love“, „Working Class Hero“ oder „Love“ steht Halbgares, Missratenes, Fast-nicht-Hörbares wie der Politblues von „Some Time in NYC“ oder das rumpelig-müde, von Phil Spector produzierte Cover-Album „Rock ’n’ Roll“. Die Geschlossenheit der besten Platten seiner ehemaligen Mitstreiter, „All Things Must Pass“ von George Harrison oder „Band On The Run“ von Paul McCartneys Wings, erreicht kein Album von Lennon.
„Kunst gibt es nicht. Wir sind alle Kunst. Kunst ist ein Etikett, das man den Dingen anhängt“, hat Lennon gesagt. Bloß Musiker zu sein reichte ihm nicht. Yoko Ono begegnet er zum ersten Mal, als sie im November 1966 in einer Londoner Galerie ihre Avantgardekunst zeigt. Daraus entsteht eine der großen Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts. Lennon ist noch mit einer anderen Frau verheiratet, Ono wirbt mit täglichen Postkarten um ihn, auf denen „Atme“, „Tanze“ oder „Beobachte die Lichter bis zur Morgendämmerung“ steht.
Sie heiraten im März 1969 in einer Blitzzeremonie in Gibraltar. Eine Zeit lang sind John Lennon und Yoko Ono das berühmteste Paar der Welt, eine Rolle, die heute Brad Pitt und Angelina Jolie übernommen haben. Ihre Flitterwochen verbringen sie mit einem „Bed In For Peace“ in Amsterdam. Lustiger ist eine „Bagism“-Aktion im Wiener Hotel Sacher. Lennon und Ono steigen in einen Sack, im Sack ruft Lennon dann „Total Communication“. Er ist ein Meister in der Kunst des Verbergens.
Noch Fragen? „Love is the answer.“