Pop: Joan Baez: Nötiger denn je
Bei ihrem Auftritt im Tempodrom wirkt Joan Baez unfassbar jugendlich – obwohl die Queen of Folk eine 50-jährige Bühnenkarriere hinter sich hat.
Rauschender Beifall, als Joan Baez in schlackernder Hose, weißer Bluse und mit verschiedenen bunten Schals behängt auf die Bühne des Tempodroms schreitet, würdevoll gemessenen Schrittes, wie es einer Dame im besten Alter gebührt. Ein königlicher Empfang für die Königin des Folksongs, die sich einsingt mit dem Traditional „Lily Of The West“.
Sie feiere inzwischen ihr 50. Jahr auf der Bühne, sagt sie lachend. Kaum zu glauben, aber die hübsche, immer noch so jugendlich wirkende 67-Jährige mit den eleganten kurzen Silberhaaren war bereits ein Star der amerikanischen Folkszene, bevor sie Anfang der Sechzigerjahre bei einem ihrer Konzerte diesen damals noch ganz unbekannten jungen Mann als Gast auf die Bühne holte: Bob Dylan hieß er.
Da war sie längst die Prinzessin der Bürgerrechtsbewegung, der Proteste gegen Krieg, Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Heute singt sie „The Scarlet Tide“ von Elvis Costello, mit der Aufforderung an George Bush, alle Soldaten sofort nach Hause zu holen. Ja, sagt sie lachend auf der Bühne, derzeit sei es nötiger denn je, wieder die Stimme zu erheben. Mag diese Stimme auch nicht mehr so kristallklar und rein sein und auch nicht mehr die schwindelerregenden Höhen erreichen wie damals, so hat Joan Baez Gesangsorgan mit der Brüchigkeit von Alter und Lebenserfahrung umso mehr an seelischer Tiefe gewonnen. Verschwunden ist die schmerzhafte Schrille früherer Jahre und das manchmal vor Sendungsbewusstsein dramatisch bebende Tremolo.
Die Songs vom neuen Album „Day After Tomorrow“ stehen ihr auch auf der Bühne prächtig. Ganz besonders diejenigen ihres jüngeren Bruders im Geiste, Steve Earle. Von dessen Liedern singt sie zauberhafte Versionen: „God Is God“, „Christmas In Washington“, „Jerusalem“. Dazwischen Lieder ihrer frühen Karriere, von Traditionals über Dylan und Carter Family bis zu den neueren Stücken von Eliza Gilkyson und Tom Waits, wunderbar begleitet vom Gitarristen und Mandola-Spieler John Doyle, von Todd Phillips auf der akustischen Bassgitarre und Dirk Powell an Mandoline, Fiddle und Akkordeon.
Im Zugabenteil folgt dann ein Greatest-Hits-Wunschprogramm mit heiter textvergessenem „Donna Donna“, „We Shall Overcome“ und „Sag mir wo die Blumen sind“ zum Mitsingen. Baez wagt ein Tänzchen, während die Band fröhlich aufspielt. Selbst nach John Lennons „Imagine“ und zwei kurzweiligen Stunden wollen die Fans immer noch nicht nach Hause.