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Michael Jackson: Jetzt ist er größer als Elvis

Vor einem Jahr starb Michael Jackson, der letzte Titan. Pünktlich zu seinem erstem Todestag kommt die Vermarktungsmaschinerie wieder in Schwung.

Im Juni 2010 herrscht in der deutschen Hitparade Business as usual. Europas neuer Pop-Darling Lena führt die Albumcharts souverän an, alte Bekannte wie U2, Die Fantastischen Vier oder Jack Johnson haben es sich in den Top 10 gemütlich gemacht, Exoten wie der dänische Electronica-Produzent Trentemøller oder die Berliner Mummenschanz- Punks Bonaparte belegen die These, dass man nicht mehr zehntausende Platten verkaufen muss, um auf den unteren Rängen notiert zu werden.

Moment, war da nicht was? Heute vor einem Jahr starb Michael Jackson nach der Verabreichung eines Medikamentencocktails. In den ersten Wochen nach seinem Ableben konnte man angesichts astronomischer Verkaufszahlen den Eindruck gewinnen, sein musikalisches Erbe würde auf unabsehbare Zeit die Spitzenplätze der Charts blockieren. Davon kann keine Rede mehr sein, Jackson ist zu seinem ersten Todestag nicht mehr in den Top 100 vertreten. Haben seine Fans den King of Pop so rasch vergessen?

Immerhin ist die Bilanz des ersten postumen Geschäftsjahrs des erfolgreichsten Popmusikers aller Zeiten äußerst beeindruckend. Gut 33 Millionen Alben wurden abgesetzt, die Einnahmen des Michael-Jackson-Trust aus Tonträgerverkäufen, Film- und Kinoverwertung, Songrechten und Toureinnahmen (ein beträchtlicher Teil der Tickets für die abgesagten 50 Konzerte in der Londoner O2 World wurden von den Käufern nicht zurückgegeben, sondern als Memorabilia behalten) betrugen nach Berechnungen des amerikanische Branchenmagazins „Billboard“ über eine Milliarde Dollar. Damit ist Michael Jackson auch nach seinem Tod in kommerzieller Hinsicht die Nummer eins und hat den bisherigen Spitzenreiter Elvis Presley hinter sich gelassen. Und der musikalisch-industrielle Komplex arbeitet weiter auf Hochtouren. Im März wurde zwischen Jacksons Erben und seiner Plattenfirma Sony ein Vertrag mit achtjähriger Laufzeit unterzeichnet, der die Publikation von zehn Alben mit zum Teil unveröffentlichten Songs vorsieht und dafür Erlöse von mindestens 250 Millionen Dollar einkalkuliert.

Pünktlich zu Michael Jacksons erstem Todestag kommt die Vermarktungsmaschinerie wieder in Schwung. Die Fans werden zur Neverland-Ranch pilgern, sein Grab auf dem Friedhof in der kalifornischen 200 000-Einwohner-Stadt Glendale belagern. Sie können bei einer Auktion in Las Vegas Devotionalien aus dem unüberschaubaren Nachlass ersteigern oder sich an TV-Sondersendungen erfreuen. Ein Computerspiel, ein Musical und eine neue Platte werden in den kommenden Monaten erwartet.

Doch ob das Geschäft mit Michael Jackson auch in Zukunft so reibungslos laufen wird, ist keineswegs sicher. Womöglich ist nach dem ersten überwältigenden Ansturm auf alle Produkte, die auch nur entfernt mit ihm in Verbindung zu bringen waren, mittlerweile Sättigung erreicht. So avancierte „This Is It“, die aus den Probenaufnahmen zur gleichnamigen Konzertreihe entstandene Dokumentation, zwar zum erfolgreichsten Musikfilm aller Zeiten. Dennoch kursierten im Hype vor dem Kinostart ganz andere Summen als die weltweit 250 Millionen Dollar, die „This Is It“ schließlich einspielte – und die sich etwa gegen die 2,7 Milliarden von „Avatar“ recht bescheiden ausnehmen.

Der Post-mortem-Boom verdeckte gnädig die Tatsache, dass Michael Jackson in den Jahren vor seinem Tod zwar immer noch der bekannteste Popstar des Planeten war, die zuvor makellose Erfolgsbilanz aber ein paar Dellen aufwies. Sein letztes reguläres Album „Invincible“, im Herbst 2001 mit immensem Werbeaufwand auf den Markt gedrückt, war trotz zehn Millionen verkaufter Exemplare ein relativer Flop – zumindest nach dem Maßstab, den Jackson selbst mit seinem Jahrhundertalbum „Thriller“ gesetzt hatte. Dass er dem Kanon unsterblicher Songs wie „Billie Jean“, „Beat It“ oder „Dirty Diana“ noch mal Gleichwertiges hinzufügen würde, haben wohl nur Berufsoptimisten erwartet.

Vor Jacksons Tod wurde spekuliert, ob er als Performer noch mal zu alter Form auflaufen könnte. Bei der Ankündigung der „This Is It“-Konzerte im Frühjahr 2009 deutete wenig darauf hin, dass er die Strapazen dieses Live-Marathons durchstehen könnte, wogegen die später entstandenen Aufnahmen der Proben wieder den eisern disziplinierten Hochleistungstänzer und Stimmakrobaten früherer Tage zeigten.

Zynischerweise kam sein Tod aus vermarktungsstrategischer Hinsicht zum idealen Zeitpunkt. Einerseits war Jackson durch die spektakuläre Tourankündigung samt fantastischem Vorverkauf endlich wieder als Künstler im Gespräch. Andererseits war das von vielen mit voyeuristischer Vorfreude prognostizierte Scheitern seines Comebacks mit einem Schlag aus der Welt. In pietätvollem Konsens wurde Michael Jackson heilig gesprochen, wodurch all die Kontroversen, die es in den vergangenen Jahren um bemitleidenswerte Gerichtsauftritte, alarmierende Gerüchte über seinen Gesundheitszustand, den wachsenden Schuldenberg und einen exzessiven Lebensstil gegeben hatte, gegenstandslos waren.

Ein durchaus geläufiges Phänomen: Auch andere mehr oder weniger tragisch aus dem Leben geschiedene Ikonen der Popkultur wie der verfettete Las-Vegas- Rentner Elvis, der streitbare Privatier John Lennon oder die verschwenderische Prinzessin der Herzen Diana hatten zu Lebzeiten durchaus ihre Kritiker, die aber angesichts der kollektiven Trauer zumindest vorübergehend verstummten.

Bei Michael Jacksons Tod potenzierte sich der empathische Impuls um ein Vielfaches, wohl auch aus der Ahnung heraus, dass es womöglich nie wieder ein Ereignis dieser Dimension geben würde.

Keiner der noch lebenden Popstars, kein Bob Dylan oder Robbie Williams, keine Madonna, aber wohl auch kein Schauspieler, Sportler, Politiker oder Religionsoberhaupt, das darf man prophezeien, wird bei seinem Ableben einen solchen alle nationalen, ethnischen, konfessionellen und ideologischen Grenzen überwindenden Emotionsschub auslösen wie der letzte globale Superstar.

Zumindest symbolisch markiert Michael Jacksons Tod somit auch das Ende der anglo-amerikanischen Kulturhegemonie. Die zukünftigen Protagonisten der Popmusik mögen aus Johannesburg, São Paulo, Bangkok oder Hannover kommen oder auch, wie der Jackson-Clan, aus einem Kaff im Südosten von Chicago – aber dass ihnen noch mal die ganze Welt zuhört, ist unwahrscheinlich.

Jörg Wunder

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