Pop: Eine Frage der Physis
Pionierleistung oder Schwindel? Radiohead macht sein Gratis-Download-Album "In Rainbows" zur CD.
Die Veröffentlichung des Albums „In Rainbows“, für das Radiohead vier Jahre brauchten, gilt bereits als Coup des Jahres. Oder ist es nur ein Medienereignis? Als im Oktober die Platte ausschließlich als Online-Version erschien, auf einer bandeigenen Homepage und zu einem von allen Interessenten selbst zu bestimmenden Preis, wurde das blasshäutige, verkopfte Quintett um Sänger Thom Yorke als Avantgarde gefeiert. Es schien seinen Vorreiterstatus zu bestätigen, den es seit der genresprengenden „OK Computer“-Platte von vor zehn Jahren innehat. Damals stießen die Musiker an die Grenze dessen, „was sich mit Gitarre, Bass und Schlagzeug sagen lässt“, wie Gitarrist Jonny Greenwood es ausdrückt. Musik, das signalisierte der neuerliche Vorstoß, ist zum ideellen Gut geworden. Dessen Preis hängt im digitalen Zeitalter nur mehr vom Ermessen des Spenders ab. Gestern ist „In Rainbows“ nun – ganz oldschool – als CD in den Handel gekommen und rangiert bei Amazon immerhin auf dem siebten Rang.
Das ist nicht schlecht für ein Album, das es bereits seit langem gibt, umsonst. Aber wirft es auch ein anderes Licht auf die Zukunftseuphorie, die Radioheads Internetinitiative ausgelöst hat? Von Anfang an regte sich Kritik an der Aktion. Die Datenrate des Online-Albums sei viel zu schlecht, monierten Internetaktivisten. Als Modell tauge Radioheads Bezahl-was-du-willst-Praxis nicht, da nur eine Band, die jahrelang von einer großen Plattenfirma aufgebaut worden sei, sich auf die nötige Popularität verlassen könne. „Der überwiegende Teil der Bevölkerung ist nun mal nicht Radiohead“, raunzte Plattenmagnat L.A. Reid (Island/Def Jam). Die Band spiele einer fatalen Umsonst-und-Draußen-Mentalität in die Arme. Aber schwerer wiegt, dass das Ganze ein abgekartetes Marketing-Manöver gewesen sein könnte. Nachdem Bands wie die Arctic Monkeys ihrer jungen Karriere Auftrieb verliehen, indem sie ihre Songs kostenlos ans Konzertpublikum verteilten und sich für eine massive Verbreitung im Internet stark machten, haben Radiohead dieses Konzept nun professionalisiert. Und die Manager der Band präzisierten: „Wenn wir nicht davon ausgehen würden, dass Leute, die die Musik gehört haben, auch die CD kaufen wollen, würden wir das alles nicht machen.“
Ein Schwindel? Die Internet-Community mag sich um eine Pionierleistung betrogen fühlen. Von der Hand zu weisen ist Thom Yorkes Argument nicht, dass „In Rainbows“ Millionen von Menschen nicht zugänglich gewesen wäre, wenn es nur als Download fortexistiert hätte. „Ich will die Gewissheit haben“, sagte er dem „Rolling Stone“, „dass alle, die die Platte hören wollen, sie auch hören können.“ So wird der Vorreiter des digitalen Vertriebs im Lichte seines Erfolges zum Apologeten des traditionellen Tonträgermarktes. Eine kuriose Wendung: Das Globalitätsinstrument schlechthin, das Internet, erweist sich für die britischen Popstars als zu klein. Der alte Handel soll es richten.
Tatsächlich haben es die zehn neuen Songs verdient, von so vielen Menschen wie möglich gehört zu werden. „In Rainbows“ ist die schlüssigste, spannendste, fabelhafteste Platte seit „Kid A“ (2000); vielleicht sogar noch besser, weil sich das zuweilen verkrampfte, richtungsfiebrige Experimentieren mit dem elektronischen Besteck der post-„OK Computer“– Phase hier zur großen, erhabenen Geste rundet. Eine Ballade wie „Nude“ mit ihrem zarten Streicher-Schleier, dem eingestreuten Gitarren-Picking und Yorkes hymnisch-melodischer Gedankengesang ist schlichtweg perfekt. Dabei geht es durchaus laut und krachig zu. Und die Beats treiben einander in polyrhythmische Verästelungen. Radiohead haben ihre Kunst, dramatische Spannungsbögen zu erzeugen, weiter verfeinert. Das ist, um es mit ihren Worten zu sagen: „All I need.“ Kai Müller
„In Rainbows“ von Radiohead ist bei XL Recordings erschienen.
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