''Jeanne d'Arc'': Ein Engel verbrennt
Historische Uraufführung an der Deutschen Oper: Walter Braunfels’ "Jeanne d’Arc" - mit und ohne Christoph Schlingensief.
Ein winziger Buchstabendreher nur, Flüchtigkeit oder Legasthenie, den so sehr besonderen Umständen dieser Aufführung geschuldet, ihrem trancehaft versunkenen, gleichsam implodierenden Kunstwillen. Da macht ein krumpeliges Pappschild die Runde – und zwar buchstäblich die Runde, es fährt also inmitten all des aufgehäuften Schlingensiefschen Ritualgerümpels im Kreis herum, einmal, dreimal, siebenmal, überhaupt ist der Abend ja eine ewige Prozession, ein katholizistisches Mekka, die Welt als Installation und Drehbühne –, ein Schild, wie Bertolt Brecht und Jonathan Meese es mit vereinten Kräften nicht hätten besser bemalen können. Dicker schwarzer Pinselstrich, krakelige Schrift: „Nach Aufziechnungen von Christoph Schlingensief“. Ja, richtig gelesen: Aufziechnungen, nicht Aufzeichnungen.
Im Unvollkommenen, lieblich Rohen liegt die Wahrheit und alles Heil des Theaters und Musiktheaters sowieso, sagt dieses Detail. Schaut genau hin, sagt es auch. Dass man loslassen können muss, als Künstler, als Mensch, und lernen, mit dem Ungenügen, mit der Schwachheit zu leben. Und dass es zuallerletzt ums Ausmerzen von Fehlern geht, um Schuldzuweisungen, um richtig oder falsch.
Spätestens damit ist man drin in der Schlingensiefiade, und hier beginnt’s, ebenso verzwickt wie heikel, so makaber wie existenziell zu werden. Das Schild beschreibt eine Lücke, die keine sein will, es benennt einen erzwungenen Rückzug, eine Distanznahme, überlässt demonstrativ anderen das Feld. Und meldet doch unverhohlen Ansprüche an, schreit lauthals „Ich!“ und „Hier!“ und „Hallo!“. Denn wer vermisste Schlingensief, die Marke, das Original, jetzt nicht erst recht? Wer kompensierte seine derart klaffende Abwesenheit nicht unweigerlich mit einer emphatisch gesteigerten, über allem schwebenden Anwesenheit?
Christoph Schlingensief aber, der Weltritensammler, ist definitiv nicht da. Ist krank, wie man weiß, und zwar so ernstlich schwer, dass er die szenische Uraufführung von Walter Braunfels’ „Jeanne d’Arc“ an der Deutschen Oper lediglich hat skizzieren können, umreißen in der ihm eigenen ethnologischen Hamsterbacken- und Übermalungsästhetik. Ganze zwei Mal, heißt es, sei er auf einer Probe gewesen. Man hat ständig miteinander kommuniziert, gewiss, die eigentliche Umsetzung aber besorgten andere: ein Notfallteam aus der Regisseurin Anna-Sophie Mahler, dem Spielleiter Sören Schuhmacher, dem Dramaturgen Carl Hegemann, den Bühnenbildnern Thomas Goerge und Thekla von Mülheim, der Kostümbildnerin Aino Laberenz und der Videokünstlerin Kathrin Krottenthaler.
Sie alle haben ihre Arbeit beherzt und gut getan, im zweiten Teil geht ihnen ein wenig die chaotische Puste aus, stehen Sänger und Chor arg brav arg viel an der Rampe rum: Was sonst könnte oder sollte man beklagen. Die Versuchsanordnung dieses expressionistischen Passionsspiels ist klar: Drehbühne, turmhohe Gerüste, darin diverse Lebenskammern des Okkulten, ganz vorne natürlich der Hasenkadaver, Bahren und Fahnen, Projiziertes und Projektionen, echte Tiere (Schafe, Ziegen, Hühner, eine Kuh) und immer mittenmang die wuselige Schlingensief-Family der Kleinwüchsigen, Mongoloiden und Spastiker. Klar ist auch, dass diese Menagerie aufgeräumter wirkt, arrangierter als beim Bayreuther „Parsifal“ oder der Bayreuth-Therapie „Kunst & Gemüse“ an der Volksbühne. Was man hier sieht, sind die Ingredienzien des Schlingensiefschen Welttheaters, noch pur und rein, frisch aus Nepal importiert (wo der Meister zuletzt Begräbnisrituale studierte) und weit davon entfernt, der Verarbeitung anheim gefallen zu sein. Denn diese meint bei ihm – jenseits jeder handwerklichen oder gar psychologischen Pflicht des Regisseurs – immer auch: Verrätselung, Verwischung, Verstümmelung, Wiederauslöschung.
Insofern bietet Braunfels’ „Jeanne d’Arc“ weniger und mehr Schlingensief zugleich. Ein guter Moment ereignet sich bezeichnenderweise gleich zu Beginn, noch bevor ein Ton Musik erklingt: Da hält die Videokamera (gefühlt) mehrere Minuten lang auf einen festlich geschmückten, unerhört zarten, unerhört schönen, leise in Reisig, Kräutern, Rauch und Flammen aufgehenden nepalesischen Frauenleichnam. Hier wird nicht großartig interpretiert oder Textexegese getrieben, hier spricht das Bild, das Material in Demut und Souveränität ganz aus sich selbst heraus.
Und es spricht immer dann, wenn sich in Johannas Leben Einschneidendes ereignet: Wenn der Vater ihr erlaubt, ihren inneren Stimmen zu folgen und letztlich gen Orléans zu ziehen („Leb’ wohl, mein Baum“), oder auch später, im siebten Bild, als sie, ums Überleben kämpfend, allen Erscheinungen und Stimmen, allem, was sie in mystischer Einkehr je gehört oder geschaut hat, abschwört und widerruft, sich selbst verrät. Für Johannas Kerkerhaft sieht Schlingensiefs Konzept ein Krankenhausbett vor. Flugs wird die Heilige in ihrem notorischen weißen Nachthemdchen an den Tropf gelegt, für den Baum wiederum genügt eine simple Straßenlaterne. Und als wäre derlei nicht deutlich genug, senkt sich aus dem Schnürboden eine gewaltige menschliche Lunge herab. Rechter Flügel, linker Flügel, Arterien, Venen, große und kleine Bronchien, alles dran.
Den Finger derart in die Wunde zu legen und ein gesundheitliches Problem derart auf die Bühne zu bringen, hat einerseits etwas Schamanisches, ja Exorzistisches: Als könnte der böse Bann ausgerechnet in der Oper, im Zentrum spätbürgerlicher Künstlichkeit, gelöst werden. Andererseits und bei allem Ernst aber entbehrt dieses Zeichen nicht einer gewissen Koketterie: Werden wir hier denn nur mit Schlingensief und mutmaßlichen Schlingensiefschen Befindlichkeiten konfrontiert – und so gar nicht mit Walter Braunfels, den von den Nazis wie von der Avantgarde nach 1945 gleichermaßen verfemten Komponisten, der in seiner nahezu ungebrochenen Tonalität tragisch quer zu allen Zeitläufen steht?
Wenngleich die Braunfels-Renaissance sich nach diesem Abend kaum leichter tun dürfte: Die Frage, pardon, ist obsolet und nicht wichtig. So wenig es darum geht, dem Repertoire ein verschüttetes Œuvre an sich zurückzugeben, als Ausweis archäologischer Emsigkeit, so sehr hat man doch den Eindruck, dass Braunfels’ acht „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ in jeder konventionelleren, erzählerischeren Inszenierung verloren wären (und damit das Schicksal von Franchettis „Germania“ oder Zemlinskys „Traumgörge“ an der Deutschen Oper teilten).
Denn was beginnen mit der Tatsache, dass das Vakuum der inneren Emigration (das Stück auf ein eigenes Libretto entsteht zwischen 1938 und ’42, der „Halbjude“ Braunfels hat sich an den Bodensee zurückgezogen) hier eine längst überlebte, regelrecht abgestorbene Ästhetik hat einfrieren helfen? Wie verfahren mit einer dröhnenden Männerfantasie, die selten mehr als schwarz gegen weiß setzt, nämlich Johannas erleuchtete Melismen und blühende lyrische Ausdruckskunst gegen die martialischen Glockenschläge, das gelenkige Parlando, die düstere Farbenpracht der Mächtigen auf Erden? Und wie um alles in der Welt eine Erlösungsfabel beglaubigen, die mit „Wunder!“-Rufen schließt?
Einzig in manchen Zwischenspielen ist Braunfels klüger, reicher, schillernder als das holzschnittartige Geschehen, das er vertont – und dem er sich mit viel Aufwand meist nur affirmativ, illustrativ ergibt. Doch Vorsicht: Die eigenen Ohren hören bei Ausgrabungen gern, was schon besser komponiert wurde (Strauss’ „Elektra“ zum Beispiel, Brahms’ „Vier ernste Gesänge“, hier ein bisschen Mahler, dort ein bisschen Korngold), sperren sich so dem spezifisch Eigenartlichen. Der fabelhaft konzentrierten Arbeitsleistung von Chor und Orchester der Deutschen Oper ist das nicht anzulasten. Und Dirigent Ulf Schirmer manövriert die Klangmassen mit viel Fingerspitzengefühl, mit Kraft und Sinn fürs deutsche Gründeln – eine Idealbesetzung.
Und auch das Sängerensemble trägt dazu bei, dass diesem Stück in Intendantin Kirsten Harms’ wachsendem Exotenkabinett einer der vorderen Plätze gebührt: Mary Mills als berückend suggestive, konditionsstarke Johanna, Morten Frank Larsens dämonisch zerrissener Gilles de Rais und Paul McNamaras besorgter, blitzsauberer Heiliger Michael seien hier stellvertretend für alle hervorgehoben. Am Ende springt Johanna, ein gefallener, versengter, kohlrabenschwarzer Engel, plopp, aus einer wunderkerzenlustigen Kindergeburtstagstorte. So ist das eben bei Christoph Schlingensief, unserem letzten Romantiker und unheiligsten Heiligen – und nur bei ihm: Wer vom Tod spricht, der muss nicht nur eine Ahnung vom Sterben haben, sondern auch eine vom Geborenwerden. Und wer von Kunst spricht, der stehe höchstpersönlich mit Haut und Haar und Leib und Seele fürs Leben ein.
Wieder am 2., 6., 17. und 31. Mai.
Christine Lemke-Matwey
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