Glenn Gould: Der Schmerzensmann
Phantom des Pianos, Medium der Klassik: Heute vor 25 Jahren starb Glenn Gould. Er ist noch immer ein Rätsel.
Er wäre jetzt 75 Jahre alt und ist ein Vierteljahrhundert tot. Schwer zu sagen, wer und was Glenn Gould war. Ein Pianist? Ja, durchaus auch und doch wohl kaum nur das allein. Vielleicht: ein Medium, ein Sender von Botschaften, die er über das Klavier ausstreute. Schon besser.
Die Daten: 1932 geboren in Toronto. Seit 1935 Klavierunterricht bei der Mutter. 1940 Konservatorium Toronto, auch Orgelstudium. Seit 1943 Klavierstudium bei Guerrero. 1947 das Debüt in Toronto. Seit 1953 Aufnahmen. 1955 New-York- Debüt. Columbia-Vertrag. Goldberg-Variationen, die zur eigentlichen Gould-Sensation wurden. Seit 1957 Tourneen in Europa. Bis 1964 Konzerte weltweit. Letztes öffentliches Konzert in Los Angeles. Bis 1982 nur noch medial aktiv, auch als Moderator. Er schreibt. Entwickelt seine Visionen aus der Einsamkeit. Es entstehen die docu dramas, wegweisend für den Umgang mit den Medien. September 1982 Gehirnschlag. Am 4.Oktober: der Tod. Alles in Toronto. Glenn Gould wurde 50 Jahre alt.
Europa kennt das kanadische Wunderkind seit 1955, seit jenem sensationellen Debüt mit Bachs Goldberg-Variationen. Man hätte gern einen anschmiegsamen Starpianisten aus ihm gemacht, er aber lag von Anfang an quer. Man musste mit dem Phänomen Gould umgehen lernen, und das war schwer. Denn er kam in die fünfziger und sechziger Jahre, in die Hochzeit der Original-Puristen, und er kam mit Bach. Es ist bezeichnend, dass gerade das Werk Bachs zum entscheidenden Stoff der Offenbarung dieses „wichtigsten Klaviervirtuosen des Jahrhunderts“ (Thomas Bernhard) wird.
Um Gould bilden sich ganze Bewegungen für und gegen ihn. Aber nicht einmal die Jünger des Originalklanges konnten ihn ganz ablehnen. Als einziger Bach-Interpret hatte Gould etwas dagegenzusetzen, etwas, das nicht als „romantisch“ und als Ausfluss des verbissen bekämpften 19. Jahrhunderts gelten konnte, obwohl es strikt auf den modernen Konzertflügel setzte. Und so wird er denn von den Originalisten wenigstens als extremistischer, subjektivistischer Exot geduldet. Gould galt zwar als falsch, aber stets als modern.
Und er war stets modern und blieb es auch. Bis heute: konkurrenzlos, weil sein Ansatz von allem Anfang an progressiv war. Ihn änderte die Zeit nicht. Weil Bach bei ihm keine historische Figur war, sondern ein Denk-Material, das zur Erkenntnis führen konnte, wurde er zum Inbegriff intellektuellen Musikmachens. Wer etwas als Intellektueller auf sich hielt, hielt sich an ihn. Bach las er so progressiv wie möglich, Schönberg so traditionell wie nötig. Wer Ohren hatte zu hören, entdeckte Schönberg damals mit Glenn Gould. Und fand das schön, sinnlich, obwohl man bei Glenn Gould sonst gerade lernte, sich vom Kulinarischen abzulösen und das Mentale lustvoll zu empfinden.
Das war nur einer der Faktoren, der Gefolgschaft auslöste. Ein anderer war das Exzentrische seines Naturells und die Tatsache, dass seine Liveauftritte nicht unbedingt das waren, was er meinte. Er war gepeinigt von „stage fright“, Lampenfieber, konnte sich der Öffentlichkeit schon früh nur bedingt vermitteln, fand seine Höchstform nur allein. Er war kaum beeinflusst von äußeren Momenten, nicht einmal vom Verlauf seiner sogenannten Karriere. Das Stigma der Einsamkeit erhob ihn zum Apostel der Intellektuellen und Progressiven. Er zog sich zurück und produzierte musikalische Konserven, die so ungeheuer perfekt und speziell waren, dass er sich darin weit mehr offenbarte als „live“. Diese mediale Determination, die ihn der Welt als Person entzog, war durchaus prophetisch, ahnte ein Zeitalter voraus, in dem man ihn jedenfalls bis heute nicht vergessen kann.
Es ist fast peinlich, Glenn Gould mit anderen Pianisten zu vergleichen. Weil es bei ihm gar nicht primär ums Klavierspiel geht, ums Aufzeigen des Virtuosen. Analysen lösen sich von ihm ab. Er bleibt nur immer er. Ist mit nichts Pianistischem kompatibel. Deshalb hat man seine reale Präsenz auf dem Podium auch gar nicht so sehr vermisst: Seine „Depeschen aus dem fernen Hauptquartier" (Ernst Bloch über Gustav Mahler) bleiben als Geheimschriften, als Chiffren stets am klarsten und treffendsten, als eine Art innere Stimme. Dafür steht das Phänomen Gould heute – außerhalb der stattlichen Reihe historiographierbarer Klavierlöwen. Er ist und wird es bleiben: weit mehr Medium als Pianist.
Wie kaum ein anderer Pianist aber zieht er das Interesse der Fachleute auf sich. Keiner eignet sich so gut zur pathologischen Überinterpretation wie Glenn Gould, der selbst ein Leben lang auf der Grenze zum Pathologischen wandelte. Sich seinen eigenen, legendären Holzstuhl zimmerte, mit Gasmaske im Tonstudio aufgetaucht sein soll und dessen Lebensalbtraum darin bestand, dass er zum Duett (!) mit Maria Callas antreten müsste und G-Dur mit E-Dur verwechselte. Das berichtet er, lachend, in den überaus lesenswerten, weil höchst skurrilen, von Jonathan Cott aufgezeichneten „Telefongesprächen mit Glenn Gould“.
Gut, dass Michael Stegemanns Biografie versucht, das Phänomen geradezu gegen den missverstandenen Pianisten zu verteidigen, wenn sie in tagebuchartiger Dokumentation klarmacht, aus welchen Wurzeln Gould stammt und wohin er aus seiner puritanischen Tradition heraus gehen musste. Man kann nur eine Entwicklung bei ihm beobachten, und das ist sein Rückzug aus jeder Art der Kommunikation, aus jeder Öffentlichkeit, von jedem realen Publikum. Nur normierbare Menschen aber entwickeln sich in ihrer Kunst, Zeichenträger nicht. Das Vorrecht und die Tragik der Halbgötter? Schubert zum Beispiel, der übrigens bei Gould kaum vorkommt. Er selbst favorisierte andere: Grieg etwa, mit dem er gar familiär verwandt gewesen sein soll, der zweite Satz der sonst so vergessenen Klaviersonate op.7; auch Sibelius, nicht zuletzt Brahms, Opus 117 Nummer 1, das berühmte Intermezzo.
Keine Zeit hat Glenn Gould so verstanden und gleichzeitig ihren Unverstand derartig preisgegeben wie die heutige. Das Magazin „Fono Forum“ gedenkt seiner unter dem Titel „Genie oder Scharlatan“ – durchaus barbarisch. Denn das unbezweifelbare Können jenseits aller Ideologien steht bei Gould außer Zweifel. Die Umfrage bei lebenden Pianisten hingegen geht zumeist sehr ichbezogen aus. Will man ihn verstehen, muss man sich von anderer Seite nähern. Michael Stegemann kommt ihm da wiederum am nächsten. Seine „Gould Trilogy“ würdigt Gould in Anlehnung an dessen radiophones Meisterstück „Solitude Trilogy“, durchaus wegweisend.
Gould stand radikal zu sich selbst und hat die Musikwelt gelehrt, alles Kategoriale zu hinterfragen. Dabei sollte man sich durch die Riesen-Nachlass-Last seines Erbes nicht täuschen lassen. Monumentale Editionen umgeben uns. Das ist keine Aufforderung zum pharisäischen Urteil. Vielmehr eine, sich im Phänomenalen selbst zu orten.
Denn Gould war doch ein Schmerzensmann, einer, der den Schmerz liebte und kultivierte und dafür lebte und starb. Das scheint heute am produktivsten und modernsten. Sich mit ihm von Stück zu Stück durch sein gewaltiges konserviertes Repertoire hindurch zu identifizieren – oder sich von ihm abzusetzen. Seine „Stimme“ zu hören, sich ihr zu öffnen oder sie an sich vorübergehen zu lassen. Take for take. Mit ihm leben über Wertungen hinaus.
Dann ist und bleibt Glenn Gould ein unermüdlicher Beweger, ganz im Sinne Paul Celans: „Schreib dich nicht / zwischen die Welten, / komm auf gegen / der Bedeutungen Vielfalt, / vertrau der Tränenspur / und lerne leben.“
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