Konzertkritik: Chris Cornell: Schrei, wenn du kannst
Im Columbia Club gibt's vom Grunge-Altmeister mit den unverwüstlichen Stimmbändern mächtig was auf die Ohren
Auf dem Cover seines suboptimalen letzten Albums „Scream“ schwingt Chris Cornell in zerstörerischer Absicht eine E-Gitarre über den Kopf. Doch der ikonoklastische Akt am Leitinstrument der Rockmusik bleibt aus: Bei seinem zweiten Berlinkonzert binnen weniger Monate hat der ehemalige Soundgarden-Sänger im locker gefüllten Columbia Club gleich zwei Gitarristen in seiner vierköpfigen Begleitband.
Dafür ist der Titel der Platte absolut wörtlich zu nehmen: Chris Cornell, der mit schulterlanger Lockenpracht wieder fast so hinreißend maskulin-feminin aussieht wie in den Neunzigern als Grunge-Rolemodel, beherrscht so ziemlich jede Variante geschrieenen Gesangs, den harter Rock in den letzten 40 Jahren hervorgebracht hat. Er hat das brünftige Röhren von Bon Scott, die effeminierte Ekstase von Robert Plant und das Hochdruck-Gewinsel eines Mike Patton drauf, aber auch die aggressive Kraftschreierei zahlloser Heavy-Metal-Sänger jüngerer Bauart.
Seine technisch virtuose Vokalkunst bietet Cornell in einem Zustand künstlerischer Entrückung mit dauerleidenschaftlicher Gesichtsverzerrung dar, was einen gelegentlich an durchgedrehte Fankurven-Anheizer in Fußballstadien denken lässt. Leider gehen durch die emotionale Übersteuerung ein bisschen die Nuancen flöten, die etliche von Cornells älteren Songs durchaus zu bieten hätten. Seine bizarre Coverversion von Michael Jacksons „Billie Jean“ als schleichendes Soft-Metal-Drama etwa ist im Ansatz grandios, geht aber gegen Ende in einem Inferno aus Schreien und solierenden Gitarren unter.
Dass er durchaus ohne Geschrei singen kann, zeigt Cornell während des Vier-Song-Solo-Intermezzos zur akustischen Gitarre und bei der vorbildlichen Powerballade „Preaching the End of the World“. Die „Scream“-Stücke, die in den Studioversionen mit stereotypen Timbaland-Beats aufwarten, fallen auch live durch hölzernes Geballer raus und werden von der Band eher routiniert durchgezogen. Dafür hängt sich die Truppe bei dankbar hymnischen Songs wie „Spoonman“ oder „Rusty Cage“ voll rein und glänzt mit astreinem Gepose und fachkundig exekutierten Soloexzessen. Ab und an schwillt die Musik allerdings zu anstrengend komprimiertem Klischeemetal an, der prima auf den Soundtrack zu „Transformers 2“ gepasst hätte.
Über Cornells Stimmakrobatik mag es geteilte Meinungen geben – die meisten Anwesenden sind begeistert. Als Ausdauerleistung ist seine Tour de Force auf jeden Fall bemerkenswert: Der 44-jährige hält die zwei Stunden bis zum unvermeidlichen Finale mit dem größten Soundgarden-Hit „Black Hole Sun“ ohne Aussetzer durch. Das Bild des Abends bietet aber nicht der attraktive Grunge-Veteran, sondern seine Freundin Vicky Karayiannis: Die steht am Bühnenrand und lässt sich mit gelangweilter Miene hin und wieder dazu herab, ein Foto ihres mit Ganzkörpereinsatz performenden Partners zu knipsen. Cooler geht’s nicht.
Jörg W, er