Musiktrend: Balkan-Fantasy
Die spannendste Popmusik kommt derzeit nicht aus London oder New York, sondern aus Osteuropa. Balkan-Bands spielen mittlerweile auf den größten Rockfestivals Europas.
Ein Auftritt mit Madonna vor 70.000 Zuschauern im Londoner Wembley Stadion und vielen Millionen vor den Fernsehgeräten, damit kommt man dem Pop-Olymp schon ziemlich nahe. Die beiden Herren, die dieses Vergnügen beim „Live Earth“-Konzert Anfang Juli hatten, heißen Eugene Hütz und Sergey Ryabtzev, stammen aus der Ukraine und aus Russland und spielen in der Band Gogol Bordello. Noch vor kurzem hätte die Erwähnung osteuropäischer Musiker im Pop-Kontext nur ein lapidares „Nie gehört“ als Reaktion geerntet. Nun stehen Gogol Bordello an der Spitze eines Hypes, den selbst Madonna für wichtig genug erachtet, um ihren Hit „La Isla Bonita“ in Wembley von den beiden Gästen in ein osteuropäisches Musikkleid stecken zu lassen.
„Der Madonna-Auftritt mit Gogol Bordello war das offizielle Siegel, dass Balkan-Musik cool und groß ist“, sagt Armin Siebert, einer der Betreiber von Eastblok Music, einem Berliner Label, das sich auf die Veröffentlichung von Musik aus dem Osten spezialisiert hat. „Das Phänomen gewinnt absolut an Fahrt.“ Bands wie Gogol Bordello, deren Kopf Eugene Hütz nach dem Atomunglück in Tschernobyl 1986 mit seiner Familie aus der Ukraine in die USA auswanderte und heute in New York lebt, kreuzen osteuropäische Zigeunermusik vorbehaltlos mit allem, was ihnen in den Sinn kommt. Das Repertoire reicht von Punk über Dub und Reggae bis zu Metal-Anklängen, die sich in vierminütigen Songs zu irren, fiebrigen, meist aber doch noch irgendwie melodiösen Rasereien verdichten.
Neben dieser Mixtur aus Pop und Volksmusik haben auch reine Zigeunermusik-Gruppen wie Fanfare Ciocarlia, eine Blasmusikkapelle aus Rumänien, das No Smoking Orchestra von Filmregisseur Emir Kustorica sowie das Boban Markovic Orkestar aus Serbien maßgeblichen Anteil am Aufschwung osteuropäischer Musik. „Die haben diesen Gypsy-Stil in den letzten zehn Jahren wirklich hochgebracht“, sagt Armin Siebert. Vor allem Berlin sei eine wichtige Drehscheibe für slawische Musik. „Viele Leute aus dem Osten wohnen hier, es gibt Bands wie Miss Platnum und ErsatzMusika, Clubs wie Balkan Beats und Russendisko und auch einige Labels, die solche Musik veröffentlichen.“ Dadurch wurde Musik aus dem Osten immer beliebter.
Gogol Bordello brachten 2005 ihr viertes, viel beachtetes Album „Gypsy Punks“ heraus und dürfen sich seither auf immer größeren Bühnen ausbreiten, dieses Jahr etwa bei Mammutfestivals wie Glastonbury und Rock am Ring. Der Charterfolg der soeben erschienen, fünften Platte „Super Taranta!“, ein neuerlicher stilistischer Mischmasch, der sich zwischen Rebellengestus und reißerischem Partysound bewegt, ist ohnehin vorprogrammiert.
Selbst amerikanische Bands, denen jeder direkte Bezug zu Osteuropa fehlt, haben die Zigeunermusik vom Balkan für sich entdeckt und mit ihrer Pop-Sozialisation zu einem multikulturellen Stilmix verschmolzen. Der 21-jährige Milchbub Zach Condon aus Santa Fé, New Mexico zum Beispiel bereiste im Alter von 16 zum ersten Mal Europa, hörte das Boban Markovic Orkestar und kam beseelt von dieser Musik wieder in die USA zurück. Seither veröffentlicht er unter dem Bandnamen Beirut hervorragende, von Ukulele-Akkorden und Trompetenfanfaren getragene Songs zwischen pathosschwangerem Bombast-Pop und slawischen Volksweisen.
„In dieser Musik kommt einfach Leidenschaft, Energie und Verrücktheit rüber, was uns im Westen ein bisschen abgeht“, glaubt Armin Siebert. „Ein Weiteres ist die virtuose Beherrschung der Instrumente. Das spricht vor allem junge, alternativ denkende Menschen an. Man muss nur offen für andere Kulturen sein.“ So wie der selbsternannte König des Balkan-Pop: Shantel aus Frankfurt, der vor zehn Jahren in die Ukraine aufbrach, um seinen familiären Wurzeln nachzugehen. Ende August kommt nach einigen Veröffentlichungen mit dem Bucovina Club Orkestar sein neues Solo-Album „Disko Partizani!“ heraus, eine elektroniklastige Abwandlung des Zigeuner- Sounds. „Es ist toll, dass Volksmusik in Osteuropa von jungen Menschen als cool empfunden wird. Das gibt es in Deutschland kaum“, spricht Siebert ein Defizit an, das die Sehnsucht nach dem Urwüchsigen in dieser Musik erklären mag.
Die Verschmelzung von West-Pop und Ost-Folklore läuft allerdings auch Gefahr, sich in Ostklischees zu ergehen und der Andersartigkeit der Zigeunermusik auf bloß oberflächlichem Niveau für eigene Zwecke zu bedienen. So hinterlässt zwangsläufig einen schalen Nachgeschmack, dass etwa Eugene Hütz von Gogol Bordello mit Schnurrbart und aus dem halboffenen Hemd hervorquellendem Brusthaar in bestem Borat-Outfit auftritt und seine Texte auch nach 20 Jahren US-Aufenthalt noch mit breitem Ost-Akzent vorträgt. „Sicher nutzen viele dieser Bands Klischees“, meint Armin Siebert. „Gerade Beirut ist ein gefundenes Fressen, um sich das Maul zu zerreißen. Zach Condon ist ein junger Amerikaner, der nichts vom Balkan gesehen hat, sondern zwei Monate in Paris herumhing und dort mit serbischen Musikern jammte. Trotzdem hat er den Balkan verstanden, aufgesogen und mit ‚Gulag Orkestar’ ein wunderbares Album gemacht.“
Einige weitere wunderbare Alben stehen wohl noch an, schließlich ist für Musik aus Osteuropa noch viel Luft nach oben. Gogol Bordello sind allerdings vorerst anderweitig beschäftigt. Sie setzen die Kooperation mit Madonna fort und wirken als Schauspieler in ihrem Kurzfilm-Regiedebüt „Filth and Wisdom“ mit.
Gogol Bordello: „Super Taranta!“ ist bei Side One Dummy/Cargo erschienen. Shantel: „Disko Partizani!“ (Essay/Indigo) erscheint am 24. August.
Michael Luger
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