Jazz: Alles Fühlbare in einem Schrei
Bei Uschi Brüning geht es in jedem Ton ums Ganze. Eine Hommage an Berlins größte Jazz-Virtuosin. Von Wiglaf Droste
Der Weg zu Uschi Brüning war ein Umweg über die Literatur. Noch keinen Ton, keine Note hatte ich von ihr gehört, da stand sie schon im Brennpunkt der Faszination. Die frühe Verehrung für Uschi Brüning verdanke ich meiner Deutschlehrerin, die uns Ulrich Plenzdorf lesen ließ, „Die neuen Leiden des jungen W.“ Plenzdorfs Held Edgar Wibeau schwärmt für Jazz, für richtige Musik: „Wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir in den ‚Eisenbahner‘ gegangen oder noch besser in die ‚Große Melodie‘, wo die Modern-Soul-Jungs spielten oder SOK oder Petrowsky, Old Lenz, je nachdem, wer dran war. Montag war immer fester Tag. Oder denkt vielleicht einer, ich wusste nicht, wo man in Berlin hingehen musste wegen echter Musik? Nach einer Woche wusste ich das. Ich glaube nicht, dass es viele Sachen in Berlin gegeben hat, die ich versäumt habe. Ich war wie in einem Strom von Musik. Vielleicht versteht mich einer. Ich war doch wie ausgehungert, Leute! Schätzungsweise zweihundert Kilometer um Mittenberg rum gab es doch keine anständige Truppe, die Ahnung hatte von Musik.“
Mir ging es mit 16, 17 Jahren in Bielefeld im Westen nicht anders, als es Wibeau im fiktiven Ort Mittenberg im Osten ergangen war. Aber Wibeau war nach Berlin abgehauen, blühte dort auf und sog mit Musik das Leben ein: „Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt. Ich glaube, sie ist nicht schlechter als Ella Fitzgerald oder eine. Sie hätte alles von mir haben können, wenn sie da vorn stand mit ihrer großen Brille und sich langsam in die Truppe einsang.“ Man merkte gleich, worum es wirklich ging bei Musik: um das große Lebenselixier, die Liebe – also nicht um den schäbigen Ersatz, von dem die Religionslehrer schluchzten und der bis heute von allerlei Lourdes-Latschern empfohlen wird. Schönen Dank auch.
Plenzdorf war hin und weg vor Liebe zu Uschi Brüning, die Musik war eine Allegorie für das Wunder, nach dem er sich sehnte: „Wie sie sich mit dem Chef verständigte ohne einen Blick, das konnte nur Seelenwanderung sein. Und wie sie sich mit einem Blick bedankte, wenn er sie einsteigen ließ! Ich hätte jedes Mal heulen können. Er hielt sie so lange zurück, bis sie es fast nicht mehr aushalten konnte, und dann ließ er sie einsteigen, und sie bedankte sich durch ein Lächeln, und ich wurde fast nicht wieder.“
Dass er seinen Helden durchs Reich der Projektionen schickte, wusste Plenzdorf: „Kann auch sein, es war alles ganz anders mit Lenz. Trotzdem, die ‚Große Melodie‘, das war eine Art Paradies für mich, ein Himmel. Ich glaube nicht, dass ich in der Zeit von viel was anderem gelebt habe als von Musik und Milch. Anfangs war mein Problem in der ‚Großen Melodie‘ bloß, dass ich keine langen Haare hatte. Ich fiel ungeheuer aus dem Rahmen.“ (Alle Zitate aus „Die neuen Leiden des jungen W.“)
Es war alles da an Verheißungen: Musik, Liebe, wildes Leben, nicht gezügelt oder gedämpft, sondern radikal, alles und jetzt gleich sofort, Vertröstungen waren etwas für arme Willis, egal ob im Westen oder im Osten. In Bielefeld hatten wir den „Bunker Ulmenwall“, mit rüdem Folk und Jazz, so kam es uns zumindest vor. Leben war schwer, aber dann auch wieder ganz leicht, selbstgedreht in Lederjacke und, klar, mit langen Haaren, Matte bis zum Arsch, und die RAF war gegen die Staatsordnung und also schwer in Ordnung. Ein Opportunistenschleimspruch wie „Ich war jung und brauchte das Geld“ wäre uns nie eingefallen. Musik war Springtanzfolk, richtiger Rock oder eben Jazz, und der durfte bitte gern so frei sein, wie es nur ging, und alle Grenzen sprengen.
Persönlich kennengelernt habe ich Uschi Brüning viel später, am 19. Mai 1999, im Berliner Tränenpalast. Im Rahmen von „Jazz, Lyrik, Prosa“ trat sie mit ihrer Band Enfant auf. Der Ganzkörperschlagzeuger Wolfgang „Zicke“ Schneider begeisterte mich sofort, der Saxofonist Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky war mit seinem trockenen Humor und seinem exzessiven Spiel nicht minder eindrücklich. Und dann kam Uschi Brüning dazu und sang „Compare to what“.
Die Wirkung war physisch. Ich dachte, ich müsse zerspringen. Das Blut kochte und schoss unter die Schädeldecke, die Gefäße schienen zu klein, um die Energie und Intensität dieser Stimme aufnehmen zu können. Auch von außen wirkte der Gesang auf den Körper, wie tausend Nadelstiche – und wie zum Beweise des Diktums von Oscar Wilde, nach dem Körper und Seele ein und dasselbe sind. „Tryin’ to make it real“, versuchen, es wahr zu machen, wirklich, wahrhaftig: Darum geht es, wenn Uschi Brüning singt. Ich war 37 Jahre alt, als ich sie erstmals live singen hörte, etwa so alt wie Ulrich Plenzdorf, als er seine Eloge schrieb, und ich wusste genau, was der Mann gemeint hatte.
Noch einmal fand ich literarisch beschrieben, was es mit Uschi Brünings Art zu singen auf sich hat. Peter Hacks schrieb in seinem Gedicht „Die Welt, schon recht“: „Wenn deine Schönheit sich ins Engelhafte / Verklärt und dann in einem Aufschrei birst, / Und alles Fühlbare in diesem Schrei ist, / Mit dem du aller Wirrsal dich entwirrst.“ So klingt das, wenn Uschi Brüning „Compare to what“ singt. Und sie macht kein bisschen Aufhebens davon.
Der künstlerische Adel der DDR hat sie verehrt und verehrt sie noch, und das einfache ostdeutsche Volk ist nicht minder hingerissen. Ich habe das seit 1999 oft erlebt, auf einer großen Bühne in Berlin, auf einem Freilichtpodium in Zollbrücke in Brandenburg oder in einem Kulturhaus in Marienberg im Erzgebirge – ob begleitet von einem Pianisten, einem Duo oder einer Band: Uschi Brüning, der Star, bis in die Haarspitzen voll Lampenfieber, singt, egal vor welchem Publikum, völlig unprätentiös wie um ihr Leben. In jedem Ton geht es um alles, und das Publikum kann sein Glück nicht fassen – und auch das seltsame Gefühl nicht, dass diese Stimme eine Stimme aus der DDR war und ist, wenn auch niemals die Stimme der DDR.
Uschi Brüning tritt am Freitag, 19. 9., um 20 Uhr mit Georgie Fame und dem Alan Skidmore Quartet im Kammermusiksaal der Philharmonie auf.
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