Der Pop der Nullerjahre: Alchimisten der Zeitenwende
Von Umstürzen hat das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nichts gesehen. Das Neue ist das gute Alte: Die Pop-Musik der Nullerjahre wurde von Timbaland, Jack White und Antony geprägt.
Was ist von einem Jahrzehnt zu halten, das mit derselben Musik endet, mit der es begonnen hat? Jedenfalls klingt noch immer ungemein modern und aktuell, was seit 2001 veröffentlicht wurde. Was auch bedeutet: Sehr viel hat sich die Pop-Musik seither nicht fortentwickelt. Die nuller Jahre haben nicht jene rasanten stilistischen Sprünge und Brüche erlebt, die ein Jahrzehnt wie die Sechziger mit seinen zunächst tumben Rockabilly-Hits, der raffinierter werdenden Emphase von Beat- und Surfmusik bis zur psychedelischen Klangexplosion gleich mehrere Evolutionsstufen durchlaufen ließ. Auch die Siebziger und Achtziger waren von kulturellen Beben geprägt, die man kurz zuvor noch für undenkbar gehalten hätte. Sei es, dass Punk ab 1977 die Grenze von Kunst und Leben einriss oder Techno von 1988 an archaische Muster des Tribalismus in urbanen Clubs sich ausbreiten ließ.
Von solchen Umstürzen hat das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nichts gesehen. Da wäre das epochale Album der New Yorker Jungs aus gutem Hause namens The Strokes, das mit dem apodiktischen Titel „Is This It“ die Aggression und Ernsthaftigkeit des Punk wiederbelebte und den bis heute anhaltenden Retrorock-Kult initiierte. Der britische „NME“ kürt es nicht zu Unrecht zur wichtigsten Platte des Jahrzehnts. Denn noch immer zieht es Fäden und dient jungen Bands als Blaupause. Jemandem, der vom Millennium direkt in die Gegenwart hätte springen können, wie der „Guardian“ es in einem Gedankenexperiment suggeriert, wären die Hits von Top of the Pops „ziemlich vertraut vorgekommen“. Zehn Jahre, und nichts ist passiert? Unterschiede fallen kaum ins Gewicht – außer der großen Anzahl weiblicher, gut aussehender Pop-Elevinnen, die sich auf den Synthesizer und dessen unpersönliche Klangkostümierung verlegt haben (Lada GaGa, La Roux, Annie, Little Boots), und dem Untergang von Nu-Metal (Limp Bizkit).
Pop ist dominiert von Musik, die eingefroren scheint zwischen Post-Irgendwas und Retro. Entweder wird ein musikalisches Vokabular gepflegt, obwohl es seine große Zeit längst hinter sich hatte, wie der allerorten aufglimmende Post- Oasis- und Post-Radiohead-Sound offenbart. Oder es wird die historische Referenz gesucht. Neo-Soul- Diven à la Amy Winehouse und Duffy rehabilitieren antiquarische Motown- und Stax- Klänge und helfen über die Enttäuschung hinweg, dass R&B als populärste amerikanische Musik sich leider doch nicht so weiterentwickelt hat, wie dies vor zehn Jahren zu hoffen war. Dennoch wird die Stagnation nicht als Lähmung empfunden. Daran haben drei Musiker Anteil, die dieser Post/Retro-Ära immer wieder vor Augen geführt haben, wie man aus dem, was zum Teil schon lange da ist, noch einmal Neues machen kann.
Timbaland, der schwarze Hip-Hop- und R&B-Produzent, zeigte den Schwarzen, was sie alles von weißen Disco- und Clubsounds adaptieren könnten. Seine flippigen Spacebeats sogen die synkopierte Dringlichkeit von Techno auf. Jack White, der böse, zornige Bursche mit dem aschfahlen Gesicht aus Detroit, zeigte den Weißen, dass sie mit der Musik des schwarzen Mannes keineswegs fertig seien. Mit seinen Bands The White Stripes, Raconteurs und Dead Weather erneuerte er die Rockmusik, indem er zu ihren Ursprüngen im Blues zurückkehrte. Ein einziges, simples Riff aus „Seven Nation Army“ schaffte es zur weltumspannenden Stadionhymne. Und schließlich erschien da ein Kauz wie Antony auf der Bildfläche. Ein singender Hermaphrodit, der nicht nur Schwarz und Weiß in seiner eigentümlich wimmernden Soulstimme vereint, sondern auch die Grenzen zwischen Mann und Frau aufgehoben und die hohe und steife Form des Kunstliedes mit dem Pop versöhnt hat.
Timbaland, Jack White und Antony sind das Pop-Triumvirat der nuller Jahre. Bedeutender als sie konnte man in diesem Jahrzehnt nicht werden. An dessen Ausklang hat der Tod Michael Jacksons deutlich aufgezeigt, dass die Zeit der Superstars unweigerlich vorüber ist. „This is it“ sollte seine Abschiedsgala im Londoner Millennium-Dome heißen. Ganz ähnlich hatten die Strokes ihr Punk-Manifest betitelt. „Is This It“ war ein Aufbruch. Jacksons 50 Konzerte sollten der Abschied des „King of Pop“ werden. Die Überdosis eines Narkosemittels machte die Pläne des 50-Jährigen zunichte. Die Nachlassverwalter machten das Geschäft ihres Lebens. Zeitweilig standen die sechs Soloalben, die Michael Jackson nach der Trennung von den Jackson 5 und von Motown eingespielt hatte, in den Top Ten. Und in den Radios war wieder der wuchtige, aggressive Protopop eines Mannes zu hören, den die Welt als pädophilen Freak längst abgeschrieben hatte.
Die Musikindustrie freute sich über den pekunären Platzregen, den ihr die posthumen Jacko-Festspiele bescherten. Keine andere Branche dürfte seit Untergang des Kutschergewerbes so sehr unter einer technologischen Umstellung gelitten haben – in diesem Fall auf den digitalen Datenverkehr. Seit der Absatz von Tonträgern 1999 seinen historischen Höchststand von 40,5 Milliarden Dollar erreichte, hat sich der Markt auf 18,4 Milliarden im Jahr 2008 halbiert. Tendenz: weiter sinkend. Die Digitalisierung, die Musikstücke im Internet in mp3-Klone verwandelt, Preise aushöhlt und Hörgewohnheiten revolutioniert, hat auch das Musikmachen selbst verändert. Musiker können von Plattenfirmen keine Karrieren mehr erwarten. Sie dürfen überhaupt nichts erwarten, es sei denn, sie nehmen es selbst in die Hand. So fächert sich die Musikwelt in immer kleinteiligere Segmente auf und bringt gleichzeitig eine Fülle an hochkomplexer Popmusik hervor.
So ist Musik heute überall verfügbar. Nur Hits wie „Billie Jean“, „Thriller“, „Beat It“, „Bad“, „We Are The World“, in denen der Wille zur Komplexität mit Massenerfolg einherging, gibt es nicht mehr. Heavy-Metal-Gitarren trafen auf Soulgroove und Gospelchöre, ohne dass eines der im Studio verwendeten Instrumente am Ende hätte wiedererkannt werden können. Jacksons Status als erfolgreichster Künstler seiner Zeit verdankte sich nicht nur dem Aufkommen von Videoclips und MTV, sondern einer Verschmelzungsenergie, die zum Nukleus der Popkultur selbst zählt, seit weiße Jungs singen wollen wie Schwarze. Und umgekehrt.
Auch Timbaland, Jack White und Antony sind Alchimisten. Als Timbaland in den Neunzigern an der Seite von Missy Elliott und Aaliyah auf den Plan trat, hatte Hip-Hop sich als Sprache des Gettos erschöpft. Es bedurfte einer neuen Anknüpfung, die Timbalands puristischer Ansatz eröffnete. Indem er rhythmisches Händeklatschen klingen ließ wie Händeklatschen und „fette“ Hip-Hop-Beats in fein verästelten Pünktchenbeats auflöste, machte er sich das Bauprinzip von House- DJs zu eigen („Bounce“). In der Zusammenarbeit mit Justin Timberlake wurde dieses Prinzip mit einem großen Pop-Entwurf gekrönt, der nicht nur optisch Michael Jackson zitiert.
Bevor Jack White 2003 mit seiner „Schwester“ Meg am Schlagzeug und dem vierten White-Stripes-Album „Elephant“ berühmt wurde, war Blues die Musik alter, unverbesserlicher Männer gewesen. Das Duo änderte das, indem es demonstrierte, wie hart und schmerzvoll Rockmusik sein könnte, wenn sie sich auf ursprüngliche Quellen berufen würde. Diesem Prinzip bleibt der 34-jährige Rootsgitarrist in all seinen Projekten treu. Seinen Ruf als Rockstar des Jahrzehnts untermauert der Film „It might get loud“, der ihn in eine Reihe mit Jimmy Page und The Edge von U2 stellt.
In Antony ist die Utopie einer reinen Musikalität lebendig, wie sie vermutlich nur unter Bedingungen eines zerfallenden, unkontrollierten Marktes entstehen kann. Denn man lässt schräge Vögel wie ihn einfach gewähren, statt den mäandernden Nirgendwo-Songs eine prägnante Form zu geben. Dass Musik nicht mehr an einen Lebensstil geknüpft und mit modischen Attributen verschweißt wird, ist auch ein Segen.
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