Kultur: Pop! Stolizei!
Als Zeichner verewigte Seyfried die linke Szene der 70er und 80er Jahre. Jetzt würdigt ein Sammelband den Comic-Chronisten
Dieses Buch gehört eigentlich nicht ins Comicregal, sondern in das für Gesellschaftswissenschaften. Wenn künftige Generationen von Soziologen das linksalternative Milieu der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ergründen wollen, werden sie um das Gesamtwerk von Gerhard Seyfried nicht herumkommen. Es ist eine Fundgrube an gezeichneten Dokumenten und Analysen, die auch Nachgeborenen die soziokulturelle Bedeutung des Symbols Kreuzberg erklären und das einst mit dem Bezirk verbundene Lebensgefühl lebendig werden lassen.
Vor allem die lange vergriffenen Frühwerke zeigen den 1948 geborenen Seyfried als meisterhaften Chronisten der Linken und ihrer Selbstwahrnehmung. Klassiker wie „Wo soll das alles enden“ und das vor pointierten Einfällen strotzende Album „Invasion aus dem Alltag“ reflektieren mit viel Sympathie und Selbstironie die Gedanken und Aktionen der undogmatischen, anarchistischen Linken. Hier trifft man sie wieder, die knubbelnasigen Polizisten, Freaks und Weltverbesserer, die nach ihrer Entstehung an Seyfrieds Zeichentisch – anfangs in München, seit 1976 in Berlin – tausendfach auf Flugblättern, in Schüler- und Studentenzeitungen quer durch die Republik nachgedruckt wurden. Neben heute antiquiert wirkenden Relikten gibt es viel Zeitloses wiederzuentdecken, von Seitenhieben gegen innerlinke Flügelkämpfe bis zu den Auswüchsen des Spitzelstaates mit unangemessenen Polizeieinsätzen. Etliche Cartoons erinnern in ihrer spielerischen Verbindung von Bild- und Wortwitz daran, dass Seyfried fürs linke Milieu einst ähnlich bedeutsam war wie Loriot fürs Bürgertum. Ein Klassiker unter vielen ist der hilflose Monolog des Polizisten bei einer versuchten Festnahme: „Pop! Stolizei!“ Auch die „Wimmelbilder“ sind als detailverliebte Sittengemälde bis heute unübertroffen.
Insgesamt neun Comic-Alben und ein gutes Dutzend teils kaum bekannter Cartoons und Karikaturen von Seyfried und seiner Juniorpartnerin Franziska Riemann alias Ziska sind hier versammelt, verbunden durch die Rahmenhandlung eines Kunst-Krimis, den Seyfried und die 25 Jahre jüngere Ziska für diesen Band neu gezeichnet haben. Die jüngeren Bildgeschichten fallen jedoch in Witz und Strich hinter die frühen Werke Seyfrieds zurück. Auch die von beiden gemeinsam geschaffenen Science-Fiction- Alben und vor allem Ziskas Solo-Cartoons können es nicht mit dem frühen Seyfried aufnehmen. Wollen sie wohl auch nicht, denn vor allem die Anfang der Neunziger gezeichneten Bände „Future Subjunkies“ und „Space Bastards“ waren eine bewusste Abkehr des Duos von den Hoch-Zeiten der Außerparlamentarischen Opposition. Die bunte Welt des frühen Seyfried wird in den späteren Alben durch düstere Zukunftsszenarien konterkariert. Ein apokalyptischer Grundton durchzieht diese Alben, aber es gibt auch manchen fantastischen Einfall (wieder-) zu entdecken. So schicken Seyfried und Ziska ihre Hauptfiguren auf virtuelle Reisen in die Matrix eines bedrohlichen Computernetzwerks, um die Menschheit zu befreien – und das acht Jahre bevor Hollywood Keanu Reeves auf eine ähnliche Reise schickte.
In den letzten Jahren hat der heute in Schöneberg lebende Seyfried immer wieder den Verlust des alten Kreuzberger Lebensgefühls beklagt. Wer seine Bücher jetzt als Ganzes studiert, spürt den Bruch, der mit dem Mauerfall kam. Waren die Comics bis in die späten achtziger Jahre trotz beißenden Spotts vom guten Glauben an das richtige Leben im falschen System durchzogen, so kippt ab 1990 die Stimmung. „Flucht aus Berlin“ ist Seyfrieds bitterböse Abrechnung mit dem Verlust der linksalternativen Idylle rund um den „Marihuannenplatz“, Neonazis und klischeehaft konsumfixierte Ossis lösen Polizisten und Bonzen als Feindbild ab. „Let the Bad Times Roll“ von 1997 kommt als frustrierte, spießig wirkende Abrechnung mit der sich verändernden Stadt daher. Ein wieder etwas hoffnungsfroheres Aufbegehren ist dann das bislang letzte gemeinsame Album, „Starship Eden“ von 1999. In dem überdrehten Science-Fiction-Band greift das Duo noch einmal lustvoll viele Charaktere, Klischees und linke Utopien früherer Jahre auf, verquirlt sie zu einer Parabel über die Folgen von Gier und Machtwahn und lässt am Ende den Glauben an das Gute siegen.
In den letzten Jahren hat sich Seyfried aus dem Comicgeschäft zurückgezogen. Er schreibt erfolgreich historische Romane und meldet sich nur hin und wieder mit Auftragszeichnungen zurück, darunter zwei Wahlplakaten für Christian Ströbele. Ziska ist ebenfalls vor allem als Autorin tätig. Ganz aufgeben wollen sie die Comics nicht. „Es passiert wahrlich genug, was einen satirischen Kommentar wert ist“, sagte Seyfried kürzlich. Er und Ziska dächten bereits über ein neues Comicalbum nach. Der jetzt erschienene Sammelband zeigt: Die Messlatte liegt hoch.
— Gerhard Seyfried, Ziska Riemann: Die Comics. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/Main. 700 großformatige Seiten, 39,90 Euro
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