Bettina Greiner: Politische Häftlinge von Stalins Gnaden
Bettina Greiner erinnert an die sowjetischen Speziallager in Ostdeutschland 1945-50. Ein Tabuthema – wie einst in der DDR – sind nicht mehr. Und doch wird Bettina Greiner nicht wenige Leser schockieren, wenn sie mit ihrem letzten Wort nach 472 Seiten des Abwägens von Fakten und Hafterinnerungen die Sache beim Namen nennt.
Trotz aller gebotenen Unterscheidung von ihren nationalsozialistischen Vorläufern gebe es „keinen Grund, die Speziallager nicht bei dem Namen zu nennen, der ihnen zusteht: Konzentrationslager. Und auch eingedenk des historischen Hintergrunds gibt es keine Veranlassung, die Gefangenen, Internierte wie Verurteilte sowjetischer Militärtribunale, nicht als die Gruppe kenntlich zu machen, die sie tatsächlich waren: politische Häftlinge von Stalins Gnaden.“
Oder Ungnaden, denn die Inhaftierung erfolgte nicht aufgrund geregelter Verfahren, sondern bei Internierten auf bloßen Verdacht und bei den Verurteilten der Militärtribunale durch justizielle Willkür. Daran zweifelt nicht einmal mehr die russische Justiz, die inzwischen auch Opfer sowjetischer Lager in Deutschland rehabilitiert hat. Trotzdem waren die zehn Speziallager, die zum Teil – wie in Buchenwald und Sachsenhausen – NS-Konzentrationslager weiternutzten und seit 1948 der Gulag-Hauptverwaltung unterstanden, weder eine Kopie von Hitlers KZs noch des sowjetischen Gulag. Bettina Greiner unterscheidet sie mit Recht sowohl von Vernichtungslagern wie Auschwitz und Sobibor als auch von Internierungs- und Zwangsarbeitslagern wie Esterwegen oder Workuta. Während hier wie dort Zwangsarbeit – auch bis zur möglichen, aber nicht bezweckten Vernichtung – geleistet wurde, waren die Insassen der Speziallager in Deutschland ohne Arbeit.
Dass dies kein Privileg war, sondern unter den katastrophalen Haftbedingungen, denen ein Drittel der Häftlinge durch Hunger und Krankheit erlag, eine zusätzliche Tortur, verschweigt Bettina Greiner nicht. Auch nicht ähnliche Zustände in den Lagern der Westalliierten, die – vor allem in der französischen Zone – kaum weniger beklagenswert waren. Dennoch gab es einen entscheidenden Unterschied: „Im Gegensatz zu der Sowjetunion praktizierten sie die Internierungen jedoch als eine Art Untersuchungshaft, die den Verhafteten einen Rechtsvorbehalt einräumte. Dieser Vorbehalt war von entscheidender Bedeutung, weil die Siegermächte erst im Verlauf der Haftzeit formaljuristische Instrumente zur Überprüfung und Bestrafung von NS-Belasteten, Verdächtigen oder als Sicherheitsrisiko Eingestuften entwickelten. Den Internierten in der SBZ aber wurde ein solcher Rechtsvorbehalt nicht eingeräumt, sie waren vom Moment ihrer Verhaftung an rechtlos.“
Da nach sowjetischem Recht „konterrevolutionäre Handlungen“ – drei Viertel aller Urteilsgründe – schon als „bloße Absicht“ bestraft werden konnten, spielten in der Rechtspraxis Fragen nach der Beweislast keine Rolle. Das genügte, um mit vermeintlichen Werwölfen, politischen Gegnern und – wegen Westkontakten verdächtigen – „Agenten“ kurzen Prozess zu machen. Bettina Greiner kennt 756 Todesurteile und 26 000 dokumentierte Haftstrafen von geschätzten insgesamt 35 000 Verurteilungen durch Sowjetische Militärtribunale. Nur ein Fünftel davon mit dem Tatvorwurf von NS-Vergehen, vier Fünftel wegen tatsächlicher oder vermuteter Vergehen gegen die Besatzungsmacht oder „einfacher“ Kriminalität.
So wenig wie die pauschale Schuldvermutung der Sowjetinstanzen lässt Bettina Greiner auch die pauschale Unschuldsbehauptung ihrer deutschen Opfer unbesehen gelten. In deren Erlebnisberichten vermisst sie oft genug Auskünfte über die wirklichen Tatbestände und eventuelle NS-Biografien der Opfer. Auch fehlt fast nie der Vergleich mit den Leiden in NS-Konzentrationslagern, aber jede Erinnerung an deutsche Kriegsverbrechen, die einigen Anlass zum harten Vorgehen der Besatzungsmacht gaben. Nur ein einziger Haftbericht räumt ein, dass es wirklich schuldhaft Inhaftierte gegeben habe.
Bemerkenswert oft sind Hafterinnerungen an die Speziallager mit Details ausgeschmückt, die an Filmszenen über den Holocaust erinnern: etwa Häftlingsselektionen wie in Auschwitz, die ein Insasse des Speziallagers Buchenwald erlebt haben will. Greiner sieht darin das in der Forschung wohlbekannte Phänomen der „Wechselrahmung“ eigener Erlebnisse mit Assoziationen an andere Opfererfahrungen, „vor deren Hintergrund Mitleid und Empathie eingefordert werden“. Denn anders als die Opfer sowjetischer Konzentrationslager sind die KZ-Opfer Hitlers vor jedem Verdacht der Teilhabe am Nationalsozialismus geschützt. Hier enden Opfervergleiche, die nicht reale Gemeinsamkeiten erkennen, sondern Unterschiede verdecken wollen. Vielleicht deshalb war die Geschichte der Lager so lange tabu: nicht obwohl – wie der Verlag im Klappentext meint –, sondern weil sie in einzigartiger Weise für die Verquickung deutscher Täter- und Opferschaft steht.
– Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburger Edition, 2010, 526 Seiten, 35 Euro.
Hannes Schwenger
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