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Flimmer-Verse. Daniel Hoth dichtet beim Kurzfilm-Slam im Kunstsalon Roderich zu bewegten Bildern.
© Paul Zinken

Slam: Platzangst, Posen und Protonen

Ausweitung der Slam-Zone: Neben den Dichterwettbewerben etablieren sich neue verrückte Formate. Ein Szenerundgang.

Robin Isenberg steht auf einem Stuhl, reckt seine Faust in die Höhe und ruft: „Ich bin das Stehaufmännchen der Nation!“ Die Zuschauer im Labor, einem kleinen Ausstellungsraum in Neukölln, johlen begeistert, sie haben Robin zuvor ins Finale geklatscht. Dort muss der erst 15 Jahre alte Schüler kreativ sein. Als Ausgangspunkt ist ein an der Wand hängendes Bild ausgewählt worden, auf dem ein Michelin-Männchen seinen Kopf von den Schultern genommen hat.

Wir sind mitten im Experimental- Slam, einer neuen Erscheinung in der Welt der Spontan-Dichter. Hier entstehen derzeit verstärkt innovative Formen. Diese sollen das gewöhnliche Dichten auf der Bühne nicht ersetzen, sondern ergänzen. Beim Experimental-Slam machen die Poeten eine Erfahrung, die mit der eines Schauspielers im Dschungel-Camp vergleichbar ist: gewohntes Spielen in ungewohnter Umgebung. Die erste Runde läuft bei Dunkelheit ab, auch wenn nach Einwänden einiger Zuschauer eine kleine Lampe brennen darf.

In der zweiten Runde werden die Texte zu elektronischer Musik vorgetragen, was die meist jungen Poeten zu einem hip-hoppigen Kauderwelsch inspiriert. Danach ist Textetausch angesagt: Es gilt, sich schnell in die Gedankengänge und den Duktus eines anderen Slammers hineinzuversetzen. Das alles verfolgen rund 100 Leute in einem 40-Quadratmeter-Raum.

Neben dem Reiz des Neuen sind die aktuellen Slam-Entwicklungen auch eine Reaktion auf eine zunehmend gesetzte und etablierte Szene, in der langjährige Zuschauer immer wieder die gleichen Poeten und Texte präsentiert bekommen. Die neuen Formate bringt den Slam zurück zu seinen wilden Wurzeln.

Selbst Wissenschaft und Wirtschaft entdecken die Kunstform, die während der achtziger Jahre als Kneipen-Poesie in Chicago entstanden ist und seit den Neunzigern auch in Deutschland eine treue Anhängerschaft hat. So wird der Science-Slam „Energy“, dessen Deutschland-Finale im Festsaal Kreuzberg die besten Wissenschafts-Entertainer der Republik zusammenbringt, von zahlreichen renommierter Bildungs- und Forschungs- Einrichtungen unterstützt, wie eine lange Logo-Palette auf den Plakaten zeigt. In den Vorträgen geht es allerdings nicht um Themen, die man auf einer Chemiker-Tagung oder einem Physiker-Kongress erwarten würde, sondern beispielsweise um gequälte Protonen.

Der durch einen Schneesturm extra aus Nantes angereiste Sascha Vogel erklärt den Zuschauern, dass die im Teilchenbeschleuniger LHC gegeneinander geschossenen Protonen Gefühle haben. Deshalb beschützt er als Mitglied der „Vereinigten Protonen Befreiungsfront“ die kleinen Wesen. Seine Organisation sei auf keinen Fall mit der „Vereinigten Front zur Befreiung von Protonen“ gleichzusetzen, ergänzt Vogel, „Spalter“ hallt es durch den Raum.

Als Deutschland-Sieger darf sich am Ende Martin Buchholz über ein Plastikhirn in Rosa freuen. „Das ist hier eine spielerische Ergänzung und wird auch in Zukunft die klassische Wissensvermittlung nicht ersetzen“, sagt der 34-Jährige, in dessen Beitrag es um den Unterschied zwischen Anergie und Exergie geht, vor allem aber um Energieverschwendung.

Die Weltenerklärer sollen eine Mischung aus Albert Einstein und George Clooney sein, denn auch die Wissenschaft kann sich nicht davor verschließen, „sexy“ und leicht zugänglich zu werden, wenn sie interessant sein will. Der Spagat zwischen Spaß und Seriosität gelingt dem Slam-Profi Buchholz problemlos, stand er doch schon als Kind auf Theaterbühnen und hat in den letzten Jahren an einer Vielzahl von Slams teilgenommen. So ist selbst in den Freak-Zonen der Kulturlandschaft die Professionalisierung nicht aufzuhalten. Eine schicke Power-Point-Präsentation gehört bei den Wissenschafts-Slammern zur Grundausstattung.

Eine weitere Neuheit in Berlin ist der Kurzfilm-Slam, bei dem die Teilnehmer einen passenden Text zu einem zuvor von ihnen ausgewählten Kurzfilm vorbereiten und vortragen müssen. Die Veranstaltung im Keller des Kultursalons Roderich hat im Gegensatz zu den anderen Slams eine ausgeglichene Geschlechterverteilung. Die Männerdomäne Slam schafft es sonst selten, viele Frauen auf die Bühne zu locken. Ob das am mangelnden Wettbewerbsgeist liegt? Oder an der Furcht, ausgebuht zu werden, nachdem man sein Innerstes nach außen gekehrt hat? Schließlich handeln die meisten Beiträge von tiefen Gefühlen und Sehnsüchten – Filme und Bilder hin, Dunkelheit und Platznot her.

Jacinta Nandi hat jedenfalls keine Scheu, in einem emotionalen Beitrag den ehemaligen Berliner Finanzsenator und jetzigen Auflagenmillionär Thilo Sarrazin zu attackieren. Seit zehn Jahren ist die Frau aus England in Berlin, oft schafft sie es bei Slams ins Finale, auch diesmal. „Es geht schon um die Botschaft, aber vor allem auch um den Spaß vorzutragen“, sagt sie. Alles halb so wild also im Slam-Land.

Vor allem bei einem jüngeren Publikum sind die diversen Bühnenwettbewerbe beliebt. Sie sind schnell, dramatisch und unterhaltsam. Der spielerische Umgang der Slammer mit Poesie und Prosa ist überdies um einiges geselliger als die heimische Lektüre.

Beim Kurzfilm-Slam wird es vor allem im Finale spannend, Jacinta Nandi muss mit den anderen Finalisten in 15 Minuten einen Text zu einem Film schreiben, den sie zusammen mit den Zuschauern zum ersten Mal sieht – selbst für Slam-Erfahrene eine Herausforderung. Wer sie nicht meistert, kann es 2011 nochmal versuchen: Wie der Science- und der Experimental-Slam geht auch der Kurzfilm- Dichterwettstreit in die nächste Runde.

Und für die Fans des mittlerweile schon klassischen Poetry Slams gibt es traditionell zum Jahresende die Berliner Meisterschaft. Hier können sich Neugierige einen Überblick über die Szene verschaffen, aber Vorsicht: Es besteht Suchtgefahr!

Berliner Stadtmeisterschaften im Poetry Slam, Donnerstag, 30.12., 20 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

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