Depeche Mode in der O2 World: Pirouetten der Leidenschaft
Verlässlichkeit, Perfektion und zwei Stunden pralles Pop-Entertainment: Depeche Mode und ihr Konzert am Montagabend in Berlin.
Wenn man nicht dazugehört zu den Auserwählten, wenn man nicht jeden Song beim ersten Ton erkennt und jeden Refrain mit glühender Inbrunst mitsingt, wenn man nicht jede Geste stürmisch bejubelt, wenn man, kurzum, kein Fan ist, sondern nur nüchterner Berichterstatter, dann hat man es schwer. Und fragt sich stets aufs Neue, was das Besondere an dieser oder jener Band ist, das Zehntausende zusammenkommen lässt, um ihre Helden zu zu feiern.
Bei manchen Pop-Giganten kann man es leicht erklären: Rammstein – die Show. Die Ärzte – der Spaß. U2 – die Überwältigung. Was aber ist es bei Depeche Mode, das in diesem Sommer allein in Deutschland 400 000 Zuschauer in acht Stadionkonzerte trieb? Eine triumphale Tournee, die einen derartigen Nachfragestau hinterlassen hat, dass nun eine Zugabe durch die größten Hallen folgt. Etwa in der O2 World, die mit 14 500 Gästen am Montagabend ebenso ausverkauft ist wie beim zweiten Gig am Mittwoch.
Natürlich bieten Depeche Mode das in dieser Gewichtsklasse übliche Maß an Verlässlichkeit und Perfektion. Ihr Auftritt ist zwei Stunden pralles, von Videoprojektionen und Lightshow unterstütztes, dennoch nicht übertrieben bombastisches Pop-Entertainment. In dem wohlkalkulierten Set aus 20 Songs ist ihr jüngstes Album „Delta Machine“ mit gleich fünf Stücken stärker vertreten als die älteren Werke, andererseits wird keine Phase aus über 30 Karrierejahren ausgeblendet. Selbst der frühe, naive Synthiepop findet Platz: Das zappelige „Just Can’t Get Enough“ aus dem Jahr 1981 erinnert an die Zeit, als Martin Gore und Dave Gahan noch in Karottenhosen und Sakkos mit Hahnentrittmuster herumhüpften.
Martin Gore wirkt nach all den Jahren immer noch schüchtern und verhuscht
Inzwischen sind die beiden DM-Kreativköpfe, anders als das ein wenig aus dem Leim gegangene Bandfaktotum Andy Fletcher, sehnige Fiftysomethings, die sich in knapp geschnittenen Glitzerwesten mit nix drunter im Partnerlook zeigen, aber grundverschiedene Temperamente repräsentieren. Dave Gahan ist die perfekte Rampensau, ein Sänger von lässiger Eleganz, der mit großen Gesten und einem Hang zur Pirouette die expressive, sexuell aufgeladene Seite von Depeche Mode verkörpert. Das übliche Bühnenrepertoire erweitert er durch vielbejubelte Einlagen, etwa einen kleinen Flamencoanfall in „Walking In My Shoes“ oder einen lasziven Poledance mit Mikrofonständer in „Policy Of Truth“.
Wer nun aber denkt, gegen diesen natural born entertainer hätte der nach all den Jahren immer noch schüchtern und verhuscht wirkende Martin Gore keine Chance in Sachen Publikumsgunst, der sieht sich aufs Schönste enttäuscht. Nur begleitet vom Keyboarder Peter Gordeno, der wie der unermüdliche Schlagzeuger Christian Eigner seit 15 Jahren zur festen Tourneebesetzung gehört, gibt Gore ein paar der raren Balladen aus dem DM-Repertoire zum Besten. Und sein Gesang, unschuldig, klar, ganz ohne das spöttische Timbre von Gahan, geht unter die Haut, lässt die Zeile „I haven’t felt so alive in years“ in dem wunderbaren Heuler „But Not Tonight“ einfach wahr und gut klingen. Das Publikum dankt es ihm mit tosendem Beifall und singt den Refrain als vieltausendköpfiger Chor minutenlang weiter. Spätestens bei dieser ergreifenden Demonstration kollektiver Zuneigung schmilzt der letzte Rest an Kritikerdistanziertheit dahin: große Band.