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Monumentalgemälde. Das 15. Bild der Serie "Die Evolution" trägt den Titel "Der Siebenstern" und arbeitet mit Symbolen.
© Stiftelsen Hilma af Klints Verk/Albin Dahlström

Hilmar af Klint: Pionierin der Moderne

Der Hamburger Bahnhof entdeckt mit Hilma af Klint eine verkannte Pionierin der Moderne. Noch vor Kandinsky malte sie das erste abstrakte Gemälde.

Der Saal leuchtet. Die Bilder wirken wie Verstärker. Ihre blauen und rosa Farbflächen befeuern sich gegenseitig und tauchen den Raum in ein unwirkliches Licht. Auf den Malgründen tummeln sich Kreise, Spiralen, Ovale und blättrige Formen, die konkret wie abstrakt gelesen werden können. Kein Wunder, dass Hilma af Klint ihr Werk wegsperrte und erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod 1944 einen Blick darauf erlaubte. Die Zeit sei noch nicht reif, beschied die schwedische Malerin zu einer Zeit, als Frauen eben erst eine offizielle Künstlerkarriere zugestanden wurde. Als es möglich war, ihre Malerei in Augenschein zu nehmen, wollte sie zunächst niemand sehen.

Umso lauter ist nun der Widerhall. Anfang des Jahres fand Hilma af Klints erste Retrospektive im Stockholmer Moderna Museet statt. Inzwischen sind die rund 200 Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde nach Berlin gereist und schreiben hier die Geschichte eines versprengten Talents der Moderne fort. In der Hauptausstellung der Biennale di Venezia bildet sie ein Zentralgestirn. Als der Nachlass 2008 in Stockholm erstmals nach einer halben Ewigkeit wieder aus seinen Kisten kam, überschlugen sich einige Kritiker. Die Kunstgeschichte müsse neu geschrieben werden, hieß es. Nicht Kandinsky habe – wie von ihm selbst apostrophiert – 1911 das erste abstrakte Bild gemalt, sondern Hilma, die in ihrem Leben auf mancherlei Art privilegiert war. Tatsächlich datiert ihr Bekenntnis zur Welt des Ungegenständlichen ein paar Jahre früher. Die „Eros“-Serie stammt von 1907.

„Hilma af Klint: Eine Pionierin der Abstraktion?“ heißt denn die große Ausstellung über zwei Stockwerke im Hamburger Bahnhof, die im Erdgeschoss von Joseph Beuys’ monumentaler Installation „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ unterbrochen wird. Sie ist mehr als eine kuratorische Fußangel. Der schwere Stein erdet Af Klints schwebendes Formvokabular, indem es auf jenen geistigen Frontmann verweist, der beiden Künstlern Vorbild war: Rudolf Steiner.

Sein anthroposophischer Universalismus zog die Malerin an, nachdem sie ihre erste Neugier auf Metaphysik mit spiritistischen Séancen gestillt hatte. 1896 gründete die Mittdreißigerin sogar eine Gruppe namens „De Fem“, als deren Medium Af Klint auftrat. Ihre Erfahrungen übertrug sie anschließend in die Malerei: „Die Bilder wurden direkt durch mich gemalt, ohne vorausgehende Zeichnung und mit großer Kraft.“ Die Künstlerin war überzeugt, dabei Botschaften höherer Wesen zu übermitteln.

Der Hamburger Bahnhof selbst wirkt dazu wie ein Kommentar. Ausgerechnet im ersten Saal, der ein imposantes Porträt der zeitlebens unverheirateten und kinderlosen Künstlerin zeigt, prallen die Widersprüche unversöhnlich aufeinander. Hier das gleißend helle Kunstlicht der gerasterten Glasdecken, das Schachbrettmuster der Steinfußböden und die verkleideten Türen mit ihren schnurgeraden Schnitten durch die Wand. Dort Hilma af Klints verletzliche Zeichnungen mit zarten Schneckenhäusern, verblassenden Muschelformen und farbigen Ranken, die man ebenso als Buchstaben lesen kann. Eindrücklicher lassen sich die konkurrierenden Prinzipien, die nüchterne Vermessung des Realen und das Vage kaum inszenieren. Fast möchte man die Künstlerin in Schutz nehmen, wie sie es selbst mit ihrem Werk tat. Doch schon im zweiten Saal ändert sich die Atmosphäre. Der Raum ist angenehm diffus beleuchtet, um nicht die frühen Pflanzenstudien mit ihren sensiblen Aquarelltönen durch zu hohe Lux-Zahlen auszubleichen – jene Blätter, für die sie zu Lebzeiten geschätzt wurde.

Ihre Monumentalgemälde lassen die Museumsgalerien schillern

Monumentalgemälde. Das 15. Bild der Serie "Die Evolution" trägt den Titel "Der Siebenstern" und arbeitet mit Symbolen.
Monumentalgemälde. Das 15. Bild der Serie "Die Evolution" trägt den Titel "Der Siebenstern" und arbeitet mit Symbolen.
© Stiftelsen Hilma af Klints Verk/Albin Dahlström

Hier offenbaren sich die Wurzeln im Wortsinn. Hilma af Klint, Tochter einer wohlhabenden schwedischen Familie, durfte ab 1882 als eine der ersten Frauen an der Königlichen Akademie von Stockholm studieren. 1906, zwei Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Rudolf Steiner, begann sie ihre inneren Bilder in kleinformatige Abstraktionen zu übertragen. Trotz aller Abstraktion bleibt der Ursprung im Vegetabilen erkennbar: Rhizome, Blütenblätter, Kelche, die Dynamik der Säfte. Ein Jahr später wuchsen die Motive auf Großformate bis zu drei Metern Höhe an. „Ich hatte keine Ahnung, was die Bilder darstellen sollten, und dennoch arbeitete ich schnell und sicher, ohne einen Pinselstrich zu verändern“, schreibt die Künstlerin. Davon zeugen die wunderbaren Monumentalgemälde, die den Raum in der oberen Etage so schillern lassen. „Die zehn Großen“ heißen sie nicht bloß wegen ihres Formats.

Jedes Motiv schildert ein Lebensalter vom Kind bis zum Greis. Übersetzbar ist dieser Zyklus des Alterns und der Reifung vom Himmelblau bis zum verlöschenden Rosé in Maßen. Die Einfühlung gelingt assoziativ, den Bezug zur Realität halten starke Symbole, die auch in den Zyklen „Der Siebenstern“, „Gemälde zum Tempel“ oder „Der Schwan“ zu finden sind. Dass der abstrakte Kosmos der Künstlerin nicht allein auf individueller Interpretation beruht, erweisen die Altarbilder im letzten Ausstellungsteil. Sie wurden separat in einem dunklen Raum untergebracht, damit das Gold auf den Leinwänden leuchtet. Kreis und Dreieck entstammen der christlichen Ikonografie, die Farbskalen Steiners Lehre.

Der Anthroposoph sorgte für eine Zäsur im Werk der Malerin. 1908 besuchte er ihr Atelier, konnte aber mit der Visualisierung des Unbewussten wenig anfangen. Af Klint pausierte darauf vier Jahre lang, wurde strenger mit ihrem Vokabular und suchte das nicht Sichtbare, was die menschliche Existenz durch die Jahrhunderte trägt, noch intensiver zu ergründen. Daher auch das Fragezeichen im Ausstellungstitel. Af Klint war zweifellos eine Pionierin der Abstraktion, doch lässt sich ihr Werk kaum von der mystischen Grundhaltung seiner Schöpferin isolieren. Ohne diesen Hintergrund verlieren manche Motive ihren inneren Anker und wirken sogar kitischig. Die Granden der Abstraktion müssen dennoch zusammenrücken, um Af Klint Platz zu machen. Sie verweist darauf, dass die von aller Esoterik sauber gebürsteten Positionen des 20. Jahrhunderts noch einmal auf ihre Ursprünge hin zu untersuchen wären. Vielleicht müsste Kunstgeschichte in dieser Hinsicht umgeschrieben werden.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50, bis 6.10.; Di bis Fr 10–18, Do 10–20, Sa/So 11–18 Uhr

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