Berlin auf der Berlinale: Picknick auf dem Flachdach
Dieses Jahr gibt es sie wieder: Berlinale-Filme, die in Berlin spielen, in Reihen wie der Perspektive Deutsches Kino oder dem Panorama. Sie entdecken die Hauptstadt abseits der touristischen Zentren – und leben vom Charme des Low-Budget-Produzierens.
Am 10. Januar 2009, gegen 3.30 Uhr morgens, verließ der Portugiese Alfonso Tiago mit einem Freund das Berghain. Der 27-jährige, in Berlin arbeitende Ingenieur hatte in dem Friedrichshainer Club gefeiert, wollte nach Hause. An einem Geldautomaten im Ostbahnhof trennten sich die Männer, danach hat niemand Tiago mehr lebend gesehen.
Einer unter Tausenden, die Jahr für Jahr in Berlin als vermisst gemeldet werden, meist aber bald wieder auftauchen, die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Anders in diesem Fall: Freunde und Verwandte starteten Suchaufrufe im Internet, klebten tausendfach Plakate, vermuteten sogar, nachdem kurz danach ein junger Kolumbianer verschwand, dass ein Unbekannter es auf südländische Partygänger abgesehen habe. Erst Wochen später, als man die Leichen fand, wurde das widerlegt. Beide Männer waren ertrunken: der Kolumbianer durch Suizid, der Portugiese beim Versuch, die zugefrorene Spree zu überqueren.
Auch nahe der Kreuzberger Wohnung von Patrick Schuckmann hatten Tiagos Freunde damals Suchplakate geklebt, zwei von ihnen hatte der Autor morgens beim Verlassen des Hauses beobachtet – die Initialzündung für den Panorama-Film „Lose Your Head“. Das könnte ein interessanter Stoff sein, dachte sich Schuckmann: „Die Partyszene war so unübersichtlich geworden, so dass sie bei vielen das Gefühl auslöste, man könne darin verloren gehen.“
So wie Luis eben, die Hauptfigur. Zwei Jahre schrieb Schuckmann an dem Drehbuch, das er gemeinsam mit Regisseur Stefan Westerwelle verfilmte. Es ist keine Spurensuche per Kamera, der Portugiese gab nur den Anstoß zu der Geschichte um den Easyjet-Touristen aus Madrid, der in Berlin seine Freiheit sucht und sich in einem Netz aus Sehnsüchten, Begierden, brüchigen Gefühlen und Drogenträumen verfängt. Kurfürstendamm, Unter den Linden, Friedrichstraße, diese Glitzermeilen Berlins, sind von der Welt des Films so weit entfernt wie ein fremdes Land. Die Welt, die Luis durchstreift, ist das Berlin Kreuzbergs und Friedrichshains, der Fernsehturm taucht da allenfalls schemenhaft im Hintergrund auf. Keine sehr dekorative Kulisse, weder der Bahnhof Ostkreuz noch die ramponierten, graffitiübersäten Häuserwände oder der Schrott- und Ruinenschick von Clubs wie Kater Holzig und Magdalena, die dem blauäugig durch die Tage und vor allem die Nächte stolpernden Luis anfangs wie das Paradies erscheinen: „Die Getränke sind billig, die Clubs machen nie zu, die Drogen kriegt man fast geschenkt.“
Ein von der Realität vielleicht nicht ganz gedeckter, für die Berlin-Filme dieser Filmfestspiele aber typischer Befund – und ein Bruch mit dem in den Vorjahren präsentierten Bild der Stadt. Geprägt wurde es durch Beiträge wie „Unknown Identity“ (2011) und „Don 2“ (2012) – Filme, die Berlin als einen von Verbrechen zwar bedrohten, touristisch aber hochattraktiven Ort der Postkartenästhetik zeigten, ganz im Sinne der Stadtvermarkter. Nun rückt der Fokus des Interesses in die dunkleren, schmutzigen Ecken der Stadt, und dabei wird selbst die Wahl einer Unterkunft zum Symptom: Der von Liam Neeson gespielte „Unknown“-Held stieg noch im Adlon ab, Luis dagegen verschlägt es in ein Hostel-Schiff an der Oberbaumbrücke. Touristisch attraktiv ist Berlin auch diesmal, allerdings auf Low-Budget-Niveau.
Auch „Silvi“ von Nico Sommer in der Reihe Perspektive Deutsches Kino zeigt das Leben in Berlin nicht gerade von seiner Schokoladenseite. Wieder gab eine reale Begebenheit den Anstoß zu der Geschichte. Diesmal kein tragischer Unglücksfall mit tödlichem Ausgang, vielmehr eine private Tragödie, wie die der 47-jährigen Silvi (Lina Wendel), die Knall auf Fall von ihrem Mann verlassen wird, im Schwarzen Loch der Einsamkeit zu versinken droht und ihr Heil in einer hektischen, unter fragwürdigen Umständen ablaufenden Suche nach einem neuen Partner zu finden hofft.
In seiner Familie habe sich etwas Ähnliches ereignet, auch die echte „Silvi“ wohne in Berlin, der Film habe sie tief berührt, erzählt Sommer. Seine Geschichte spielt ebenfalls nicht in der mondänen Mitte der Stadt, sondern in den angrenzenden einfacheren Vierteln, in den Straßen von Prenzlauer Berg, Pankow und vor allem Neukölln. An einem Imbiss auf dem dortigen Richardplatz etwa, schon dies kein sehr romantischer Ort für ein erstes Date, aber immer noch besser als der – real existierende – Neuköllner Sadomaso-Club, in den es Silvi mit einer ihrer Männerbekanntschaften verschlägt. Auch im Goldberg in der Neuköllner Reuterstraße sucht sie vergeblich ihr Liebesglück, der Abend endet zu zweit im Bett eines Hostels am Ostbahnhof – dauerhafte Erfüllung ist das nicht. Nicht mal ein Picknick in der Abenddämmerung auf dem Flachdach eines Hauses in der Schöneweider Straße, bei Rotwein aus dem Plastikbecher, bringt Linderung.
Bei den Dokumentarfilmen kommt auch der alte Berliner Westen zu Ehren
Von solchen Problemen bleiben die Figuren in dem Kammerspiel „Das merkwürdige Kätzchen“ aus dem Forum-Programm gottlob verschont, und sie müssen auch nicht so weit laufen. Eine Altbauwohnung und seine nächste Umgebung, gedreht in einem sanierungsbedürftigen Haus in der Moabiter Zwinglistraße und auf den Straßen um den Görlitzer Park in Kreuzberg, das ist alles – Berlin aus der Zimmerperspektive. Eine labyrinthische Welt, die Ramon Zürcher, Student an der dffb, durch den Wanddurchbruch zwischen zwei Nachbarwohnungen, viel Kamerafreiheit gab. So schuf er ein leicht ins Märchenhafte zielendes, auf eine Handlung im engeren Sinne verzichtendes Familienporträt. Die Wohnung mussten er und sein Team erst renovieren, möblierten sie aus dem Fundus der Schaubühne und mit Gegenständen aus ihren eigenen Wohnungen.
Auch in einigen Dokumentarfilmen steht Berlin im Mittelpunkt. Indirekt etwa in „Rosakinder“ (Berlinale Spezial), einer von fünf Regisseuren gedrehten Hommage an Rosa von Praunheim, Berlins bekanntesten schwulen Filmemacher. „Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR“ (Panorama) von Jochen Hick und Andreas Strohfeldt widmet sich dagegen der gleichgeschlechtlichen Liebe im Sozialismus. Der Film hat einen versteckten inneren Bezug zur Geschichte der Berliner Filmfestspiele: Die Premiere von Heiner Carows Defa-Schwulendrama „Coming Out“ fiel genau auf den Abend des 9. November 1989, mit der Premierenfeier nahe der Bornholmer Brücke. Ein paar Wochen später gewann der Film sogar einen Silbernen Bären.
Bei den Dokumentarfilmen kommt endlich auch der alte Berliner Westen zu Ehren, in den vier Abschlussfolgen des Langzeitprojekts „Berlin Ecke Bundesplatz“ (Berlinale Special) von Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich (siehe S. 26). Ansonsten scheint das alte Kerngebiet der Berlinale die Filmemacher herzlich wenig zu interessieren, obwohl die Seele der Stadt auch dort zu Hause ist.
Selbst der Kurzfilm „Nashorn im Galopp“ (Generation) von Erik Schmitt macht da keine Ausnahme, obwohl dessen junger Held Bruno (Tino Mewes) doch dem Genius loci, der Seele der Stadt eben, auf der Spur ist, und der wirkt ja wohl im gesamten Stadtgebiet. Immerhin geraten kurz Fernsehturm, Berliner Dom, Schloss- und Oberbaumbrücke in den Blick, ansonsten das Rathaus Neukölln und die vertrauten Straßen aus den Randlagen der Ost-City, viel Graffiti, wild geklebte Plakate, das Übliche. Das aber in einer gar nicht üblichen Weise gezeigt wird, kunterbunt montiert, mit Trickfilmelementen garniert, ein zauberhaftes Stadtporträt, das zu den Lieblingsplätzen der von Bruno umworbenen Vicky (Marleen Lohse) führt und darüber hinaus. „Ich hasse diese Stadt!“ – das schreit Bruno nur aus enttäuschter Hoffnung, aber das gibt sich bald, und der Film endet in einer berührenden Liebeserklärung per Videobeamer. Die neue Technik ist eben doch zu was gut.