Young Euro Classic: Pianist Saleem Ashkar bringt jüdische und palästinensische Israelis zusammen
Pianist Saleem Ashkar hat ein Orchester gegründet, das ein Zeichen for Offenheit setzen will. Seine erste große Reise führt ins Konzerthaus. Ein Porträt.
Der Name Nazareth ist vor allem Christen in Europa dermaßen geläufig – wegen der Formulierung „Jesus aus Nazareth“ – , dass man zunächst verblüfft ist zu erfahren: Für Juden besitzt die Stadt in Galiläa im Norden Israels kaum Bedeutung. In den wichtigsten jüdischen Schriften, im Tanach und Talmud, wird sie nicht erwähnt, Nazareth scheint erst mit den Evangelien – für biblische Verhältnisse also spät – in die Geschichte eingetreten und damals ein winziger Flecken mit vielleicht 300 Menschen gewesen zu sein.
Heute hat die Stadt 75 000 Einwohner, ist christlich geprägt – und palästinensisch. Nirgendwo leben so viele palästinensische Israelis wie hier. Dazu kommt eine jüdische Neugründung, Nazareth-Illit („Ober-Nazareth“) mit nochmal 40 000 Menschen. Die Stadt symbolisiert auf ganz eigene Weise die faszinierende soziale und religiöse Vielschichtigkeit Israels, aber auch die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die diesen Staat durchziehen. Und ist außerdem Heimat für ein spannendes musikalisches Experiment.
Saleem Ashkar wurde 1976 in Nazareth geboren. Wenn er von seiner Herkunft erzählt, ist er kaum zu stoppen. „Ich möchte die Erfahrungen, die ich gemacht habe, weitergeben. Damit der Zugang zur Musik für andere Kinder leichter wird, als er es für mich war.“ Dort, wo er herkommt, ist es keineswegs selbstverständlich, dass ein heranwachsender Junge seinen brennenden Wunsch, Pianist zu werden, auch verwirklichen kann – und wie er schließlich mit Daniel Barenboim, Riccardo Muti oder den Wiener Philharmonikern konzertiert. An diesem Mittwoch Abend wird Saleem Ashkar, der heute in Berlin lebt, beim Festival Young Euro Classic im Konzerthaus auftreten, mit dem von ihm gegründeten Galilee Chamber Orchestra. Rund 40 palästinensische und jüdische Israelis musizieren in diesem Ensemble gemeinsam. Moment, das kennen wir doch? Richtig, Daniel Barenboims West Eastern Divan Orchestra macht schon lange Ähnliches, in größerem Maßstab.
Ashkar ist Spross einer arabisch-christlichen Familie. Er gehört zu jenen 20 Prozent Israelis, die palästinensisch sind. Sein Vater war Ingenieur, gab dann seinem erzieherischen Impetus nach, wurde Lehrer. Der Junge hatte das Glück, in einer aufgeschlossenen Familie großzuwerden, sogar Platten mit klassischer Musik gab es. „Mein Vater tauschte mit einem Kollegen sein altes Auto gegen ein Klavier. Nicht, weil er Musik besonders liebte. Sondern einfach, weil er offen und neugierig war“, erzählt Saleem Ashkar. Für ihn eine Initialzündung, von da an war klar: Er wollte Pianist werden. Anfangs brachten Freunde, die in der Kommunistischen Partei waren, ihm Noten aus Moskau mit. Und das obwohl Tel Aviv nur eineinhalb Autostunden entfernt liegt. Schnell war klar: eine professionelle Musikerkarriere würde ohne Hilfe jüdischer Israelis nicht möglich sein. „Das war damals einfacher, viele Menschen haben mir ihr Herz und ihre Hilfe angeboten“, erzählt Ashkar. „Es gab ein Potenzial für Verständigung, das heute weitgehend verschwunden ist.“
Ein gesamtmusikalisches Ökosystem
Mit acht Jahren ging er nach Haifa, um bei einer russischen Einwanderin Unterricht zu nehmen, die genauso schlecht Hebräisch sprach wie er selbst, mit elf für Meisterkurse nach Frankreich, mit 17 nach London an die Royal Academy of Music. Er wollte die Konflikte in seiner Heimat hinter sich lassen, sich einfach der Musik widmen. Doch als er spürte, dass er diesen Teil von sich nicht so einfach ignorieren kann, kehrte er zurück, baute zusammen mit seinem Bruder das Galilee Chamber Orchestra auf. Es bekommt Hilfe aus den USA und stützt sich ansonsten vor allem auf die Polyphony Foundation, ein Konservatorium, an dem Hunderte von jüdischen und palästinensischen Schülerinnen und Schülern aus der Region Musikunterricht nehmen und an Workshops teilnehmen können – mit dem Ziel, ins Jugendorchester oder ab 17 Jahren ins Galilee Chamber Orchestra aufgenommen zu werden.
Hat sich Ashkar die Idee bei Daniel Barenboim abgeguckt, er war ja zwischen 2000 und 2004 selbst Mitglied des West Eastern Divan Orchestras? Nein, erklärt er, wobei er Imitation nicht grundsätzlich negativ beurteilt: „Lieber etwas Gutes imitieren als etwas Schlechtes neu erfinden.“ Aber das Galilee Chamber sei aus einem lokalen Bedürfnis heraus entstanden, aus dem Wunsch, vor Ort Strukturen zu schaffen, ein „gesamtmusikalisches Ökosystem“. Neben der Kunst hat Ashkar auch ein klares politisches Ziel: Den palästinensischen Israelis will er eine starke Stimme zu geben, um Kommunikation überhaupt erst zu ermöglichen. „Wenn zwei nicht mit der gleichen Stimmstärke reden, kann es keinen Dialog geben.“
Young Euro Classic ist die erste große Auslandsreise
Und, funktioniert es? Ja, was auch daran liegt, dass die Kinder meist aus Familien kommen, die sowieso eher offen sind. Einmal wurde sogar ein Siedlungsjunge aufgenommen, er spielte Bratsche. Und: „Jüdische Israelis kommen jetzt nicht mehr nur deshalb in die Altstadt, um billig zu essen und einzukaufen, sondern auch, um unsere Konzerte zu hören“, erzählt Saleem Ashkar. In einem Land, in dem die Nationalkonservative inzwischen den öffentlichen Diskurs weitgehend dominiert, in dem diejenigen, die die Sicht der Regierung infrage stellen, als „Verräter“ gelten und „links“ heute ein Schimpfwort ist, kann ein Projekt wie das Galilee Chamber Orchestra Signale aussenden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das Konzert bei Young Euro Classic ist übrigens die erste große Auslandsreise des Ensembles. Gespielt wird natürlich Beethoven, der im Mittelpunkt des Festivals steht und auch für Saleem Ashkar große Bedeutung hat. 2017 führte er einen Zyklus mit den 32 Klaviersonaten an verschiedenen Orten in Berlin auf. Jetzt ist er Solist in Beethovens zweitem Klavierkonzert, dirigiert die Uraufführung von „Overcoming“, das der ebenfalls in Nazareth geborenen Oud-Spieler Wisam Gibran geschrieben hat – und Beethovens 1. Symphonie. „Die passt hervorragend zu uns“, erzählt Saleem Ashkar, „denn sie sprüht nur so vor jugendlicher Energie, Haydn’schem Witz und Optimismus“. Und den kann man dort, wo das Orchester herkommt, immer gut gebrauchen.