Ausstellung: Pergamon – Grabungsglück und Kaiserwahn
Großpanorama, Großereignis: Am Freitag öffnet das Pergamonmuseum erneut seine Pforten. Vor Beginn der neuen Schau erklären wir, wie Pergamon zu einem Ur-Berliner Mythos wurde.
Nach Pergamon ist man mit der Stadtbahn gefahren. 1886 strömten die Berliner zur Jubiläumsausstellung auf das Gelände zwischen Lehrter Stadtbahnhof, Invalidenstraße und Alt-Moabit. Hier, wo nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang eine Stadtbrache gähnte und sich derzeit die Baustelle des Innenministeriums befindet, fand man alles, was zur Bildung und Belustigung diente. Neben einem pompösen Ausstellungspalast für zeitgenössische Kunst gab es ein Freigelände mit diversen Vergnügungsangeboten. Der Besucher konnte wählen zwischen einer Osteria im italienischen Stil, ägyptischen Tempeln, in denen Kaiserdioramen von kolonialen Großtaten am Kongo und in Sansibar kündeten – und einem seltsamen antikisierenden Zwitter. Auf einer Sockelnachbildung des Pergamonaltars stand in polychromer Pracht die rekonstruierte Fassade des Zeustempels aus Olympia und dahinter ein 60 Meter breites Pergamon-Panorama der Berliner Kulissenmaler Max Koch und Alexander Kips.
Yadegar Asisi, der als Entree für die am kommenden Donnerstag eröffnende Pergamon-Ausstellung ein Großpanorama in den Ehrenhof gestellt hat, knüpft also an große Traditionen an. Nach der sensationell erfolgreichen Tell-Halaf-Ausstellung auf der Museumsinsel, die 750 000 Besucher zählte, erwartet Berlin nun ein weiteres museal-archäologisches Großereignis. Es ist die erste umfassende Ausstellung über die Kultur und Geschichte der antiken Metropole in der heutigen Türkei.
Olympia und Pergamon, das waren die beiden Großbaustellen der deutschen Archäologie im Kaiserreich. 1875 hatte man in Olympia zu graben begonnen, 1878 in Pergamon. Zum Jubiläumsfest 1886 waren die Funde von Pergamon also gerade wenige Jahre bekannt. Die ersten Friese der Gigantomachie wurden der Berliner Öffentlichkeit 1879 in der Rotunde des Alten Museums präsentiert, provisorisch vor die dort stehenden Statuen platziert. Bis sie 1901 in einem ersten, von Fritz Wolff entworfenen Interimsmuseum hinter dem Neuen Museum komplett gezeigt werden konnten, sollten noch weitere zwanzig Jahre vergehen. Bis dahin war vor allem der Fries mit dem Kampf zwischen Göttern und Giganten durch Ferienkurse, Abgüsse, Wandtafeln und Gipse längst Gegenstand der schulischen und universitären Bildung geworden.
Die Pergamon-Begeisterung war von Anfang an groß. Der Mythos einer spätantiken Stadt, die sich mit einzigartiger Pracht innerhalb kürzester Zeit auf spektakulärer Terrassenlage an der kleinasiatischen Küste erstreckt und einen selbstbewussten Gegenentwurf zum klassischen Athen bildet, ließ sich für das renommiersüchtige wilhelminische Deutschland bestens verwerten. War nicht Telephos, Sohn des Herakles und mythischer Gründer von Pergamon, dem der kleinere Fries im Inneren des Altars gewidmet war, von einem Löwen gesäugt worden, während Romulus und Remus nur eine Wölfin an Mutters statt kannten? Ähnlich löwenherzig kamen sich die deutschen Pergamonfreunde vor, als sie 1886 in antiken Gewändern zum Jubiläumsfest pilgerten.
Doch die Fachwelt tat sich mit den neuen Funden zunächst schwer. Die spätgriechische Kultur des Hellenismus galt im Vergleich zur klassischen Antike seit Johann Joachim Winckelmann als dekadent. Dass die Laokoon-Gruppe, seit Winckelmann Inbegriff klassischer Kunst, in engem Zusammenhang mit den Pergamon-Friesen steht, änderte nichts an der generell negativen Einschätzung. Erst nach und nach setzt sich eine Neubewertung durch, die im Hellenismus eine Epoche der Entwicklung, des Handels und Austauschs, kurz, eine Zeit der Moderne sieht. Das pergamenische Pathos, den Schwung und die individuelle Bewegtheit der Figuren nimmt man zum Vorbild für die ganz eigene Stilform von Neobarock und Gründerzeit.
Der Stolz, mit dem der von dem Archäologen Carl Humann auf dem Burgberg zutage geförderte Skulpturenschatz in Berlin begrüßt wurde, zeugt von Antikensehnsucht und Antikenbegeisterung – aber auch von einem gehörigen Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Nationen. Denn in der Archäologie, wie bei Kolonien und Absatzmärkten, fand sich das wilhelminische Deutschland von seinen Nachbarn hoffnungslos abgehängt. Längst waren die europäischen Konkurrenten in Griechenland fündig geworden, der Parthenon-Fries, den der britische Botschafter in Konstantinopel, Thomas Bruce Earl of Elgin, schon Anfang des 19. Jahrhunderts aus Athen nach London verbracht hatte, war seit 1848 Hauptattraktion im British Museum. Vom Louvre und seinen Schätzen ganz zu schweigen.
Umso dringlicher der deutsche Wunsch, die europäischen Konkurrenten wenn schon nicht an Bedeutung, so doch an Masse zu übertreffen. Ab den 1870er Jahren sammelt man in Berlin geradezu manisch antike Großarchitekturen, je größer und spektakulärer desto besser. Unter Kaiser Wilhelm II. verlagert sich das Interesse nach Vorderasien, der Mythos Babylon löst den Mythos Pergamon ab. Die Prozessionsstraße samt Ischtar-Tor, die Robert Koldewey nach Berlin brachte, die monumentale Mschatta-Fassade, die Sultan Abdülhamid II. 1903 Wilhelm II. schenkte, das Markttor von Milet, sie alle plante man in dem seit 1906 geplanten Großmuseum auf der Museumsinsel zu präsentieren.
Lesen auf Seite 2, warum das Berliner Pergamonmuseum einzigartig ist.
Die Freude an Vergegenwärtigung und Anschaulichkeit, die sich schon in den Panoramen und Nachbauten der Jubiläumsausstellung 1886 gezeigt hatte, fand ihren Widerhall in einer illusionistischen Architekturfassung, die die antiken Funde durchschreitbar und greifbar machen wollte. Den Pergamonaltar, Herz und Kernstück des neuen, 1930 eröffneten Museums, präsentierte Alfred Messel dabei nicht mit seiner Schauseite, der Ostfassade, sondern in einer kühnen Umkehrung mit einer Rekonstruktion der Westseite samt monumentaler Treppenanlage. Mit dieser bis heute erhaltenen und seit der Restaurierung 2004 wieder in altem Glanz erstrahlenden Architektur-Rekonstruktion ist das Berliner Pergamonmuseum tatsächlich einzigartig.
Zurück aufs Jubiläumsgelände am Lehrter Bahnhof: Volksfeststimmung vor antiken Tempeln, Würstchenverkäuferinnen im antiken Gewand, ein Künstlerfest, das den Triumphzug des Herrschers Attalos für 4000 Reichsmark mit 1500 kostümierten Mitwirkenden nachstellen ließ – der Pergamon-Umzug 1886 war weit mehr als eine typische Berliner Volksbelustigung. Der Kampf der Götter gegen die Giganten, der den Sieg des Attalos gegen die Gallier und feindliche Nachbarvölker spiegelt, ließ sich damals gut umdeuten als Kampf gegen Erbfeinde und „Barbaren“.
Die propagandistische Indienstnahme des Pergamonaltars führte schließlich dazu, dass sowohl Albert Speers Haupttribünen des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg als auch eine von Wilhelm Kreis geplante Soldatenhalle beim Oberkommando der Wehrmacht in Berlin sich mit monumentalen Treppenanlagen auf den Pergamonaltar beziehen.
Peter Weiss, der den Pergamonaltar zum Ort und Thema der Eingangssequenz seines zwischen 1971 und 1981 entstandenen Romanessays „Die Ästhetik des Widerstands“ wählt, liest die martialischen Schlachtszenen schließlich als Zeichen (antiken) Klassenkampfes, spürt „den Schlag der Pranke ins eigene Fleisch“ und ergreift mit seinen Protagonisten Partei für die Unterdrückten, gegen die Herrscher – nicht ohne einen kühnen Bogen zu den Gewaltmenschen des Hakenkreuzes zu ziehen, denen seine Protagonisten 1937 im Pergamonmuseum begegnen: „Auf dem Weg zum engen, niedrigen Ausgang des Saals leuchteten uns oft aus den kreiselnden Verschiebungen in der Menge der Besucher die roten Armbinden der schwarz und braun Uniformierten entgegen ...“
Herakles, der Sterbliche, der den Sieg der Götter und Herrschermenschen über die Barbaren ermöglichte, hatte die falsche Partei ergriffen.