Neu im Kino: "Gloria" von Sebastián Lelio: Paulina García: die Stehauffrau
Im Februar riss Sebastián Lelios „Gloria“ die Berlinale aus ihrer Wettbewerbs-Lethargie. Jetzt kommt der chilenische Hit ins Kino - mit einer großartigen Paulina García.
Es gibt sie, die tückisch mindernden Umstände, gerade auf Filmfestivals – jene Faktoren, die einen rauschenden Augenblickserfolg und vor allem die eigene Erinnerung daran suspekt machen können. Gerade noch watete man im Programm durch gewaltige Pfützen des Mittelmaßes, und plötzlich: ein Ereignis. Und vor lauter Erleichterung ist die Begeisterung gleich doppelt groß.
Die Berlinale eignet sich, leider seit Jahren schon, für diesen Misstrauens-Check ganz besonders. Vor sechs Jahren erlöste Marianne Faithfull als „Irina Palm“ das Festival aus der Lethargie, 2008 übernahm Sally Hawkins in „Happy-Go-Lucky“ exakt dieselbe Rolle. In diesem Jahr buchten die Festivalmuntermacher hierfür Platz sieben des 19 Filme fassenden Wettbewerbs: Nach drei Grübeldramen mit politisch wertvollem Hintergrund, einem grotesk missglückten Star-Vehikel für Shia LaBeouf, Ulrich Seidls schwachem Trilogie-Finale und Thomas Arslans Bilder-Barbiturat „Gold“ brachte „Gloria“ das bereits schwer ausgekühlte Festival endlich zum Tanzen.
Jubel, Jubel, Jubel, stehende MitsingOvationen zu Umberto Tozzis titelgebendem Hit, stammelnde Liebeserklärungen aus Journalistinnenmund bei der Pressekonferenz – und, natürlich, der Silberne Bär für Hauptdarstellerin Paulina García: So überwältigend war das alles, dass es irgendwie nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Hatte sich da etwa ein bloßes Feelgood-Movie aus der Jahresserienproduktion den Titel des Goldenen Bären der Herzen erschlichen?
Nun kommt der vierte Spielfilm des 39-jährigen Chilenen Sebastián Lelio ins Kino, und – beruhigender Befund – das Glück darüber ist frisch wie am ersten Tag. Lelios sensible Studie über Lebenshunger und beginnende Alterseinsamkeit, über Bindungsbereitschaft gegen alle Erfahrung und Bindungsunfähigkeit gegen alle Chancen, über die nur zu gern hingenommenen Fesseln der Familie und das große, gefährliche Abenteuer namens Freiheit – sie wirkt hinreißend, anrührend, komisch, tragisch und noch dazu stets spannend in ihrem Situationenmix. Und erweist sich als feiner Beweis dafür, wie schön im Kino das Schwerste gelingen kann, das man gemeinhin das Leichte nennt.
Gloria ist 58, also noch keineswegs alt, nach heutigen Maßstäben. Und eine moderne Frau. Berufstätig, geschieden seit 13 Jahren von einem Mann, der sich einer Jüngeren zuwandte, die längst selber zu altern beginnt, dazu zwei erwachsene Kinder, denen sie sich so wenig wie möglich aufzudrängen sucht. Der Sohn ist bereits überlastet mit einem eigenen Baby, die Tochter wird bald in ihr eigenes Lebens- und Liebesabenteuer ganz weit weg nach Schweden ziehen. Geweint wird da nicht am Flughafen, oder wenn doch, dann nachher und allein.
Weil das Leben aber bitteschön weitergehen möge und vielleicht auch die Liebe, geht Gloria auf Single-Tanzveranstaltungen für Leute, die sich, den Genuss zartgeistiger Getränke vorausgesetzt, zum Beispiel bei Donna Summers 1977er-Disco-Hit „I Feel Love“ noch mal ganz doll jung fühlen dürfen. Und schleppt manchmal, besser als nichts, alleinstehende Herren für einen One-NightStand ab. Mit Rodolfo (Sergio Hernandez) nun, einem diskreten Melancholiker, perfekten Kavalier und begnadeten Tänzer, scheint es was Ernsteres zu sein. Nach einer Bettbegegnung und noch einer und einem Spaziergang und noch einem Treffen verkörpert er für Gloria die Aussicht auf noch einmal Neues im Lebensherbst, auf mehr als eine Affäre – womöglich eine zwar schon ein bisschen späte, dafür umso größere Liebe.
Es ist nichts Geringeres als die Geschichte der nochmaligen Ernüchterung einer feinfühligen und grundnüchternen Frau, die Lelio in „Gloria“ erzählt. Die Geschichte ihrer Demütigungen – vor ihrer Familie und vor sich selbst –, die ihr die Würde nicht nehmen, im Gegenteil. Die Geschichte einer Stehauffrau, die sich ihren Niederlagen ohne jeden Impuls zum Selbstbetrug stellt. Die Geschichte auch eines Optimismus, der keineswegs billig zu haben ist. Er ließe sich in Sentenzen packen und weist doch darüber hinaus. Wer liebt, muss leiden. Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt. Etwas Besseres als den Tod, Gloria, findest du überall.
Auf der Berlinale hat Sebastián Lelio gesagt, mit Gloria habe er der Generation seiner Mutter und ihrer Freundinnen ein Denkmal setzen wollen. Und im Tagesspiegel-Interview fügte der Sohn einer zweimal geschiedenen Mutter hinzu: „Familien sind eine heilige Falle. Sie können ein Albtraum sein, aber auch wie ein Zen-Meister, der einen formt. Man muss sie überwinden, sonst bleibt man für immer in ihren Mustern gefangen.“ Gloria entlastet, in einem still-mühsamen Prozess, sich selbst und vor allem die erwachsenen Kinder von ihren Rest-Erwartungen an Familienglück. Rodolfo dagegen hängt zum Fremdschämen grässlich in überschwiegenen Familienzwängen fest. Sebastián Lelio gelingt das Kunststück, diesen Charakter zugleich als Mistkerl und als armes Würstchen erscheinen zu lassen – als einen, der weder Hass noch Mitleid verdient. Gloria als schlingernde Heldin zu zeichnen ist die bei Weitem leichtere Aufgabe.
Am Ende aber sind es die Bilder, die bleiben. Nicht einmal in erster Linie jenes erlösende und im Wort- und Lautsinn knallige Bild, für das es nun in den Kinos wohl häufig Szenenapplaus geben wird. Sondern die Blicke auf Glorias Gesicht, ihren müden Körper, den sie immer wieder tapfer in die Lebens- und Liebesschlacht schickt. Die bloßen Füße zum Beispiel, mit denen sie nach einer Suff- und Kiffnacht am Strand sich einsam aufmacht in das Hotelzimmer, das Rodolfo gebucht, aber nicht bezahlt hat. Ihr Blick nur beim kurzen Wortwechsel mit dem Rezeptionspersonal. Das Lebenswissen, das dieses Gesicht zeigt und zugleich für sich behält.
In Berlin ab Donnerstag in den Kinos
Blauer Stern Pankow, Capitol, Delphi,
FaF, International, Kant, Kulturbrauerei,
Yorck; OmU in den Hackeschen Höfen
und im Neuen Off
Jan Schulz-Ojala