Kultur: Paul Virilio: Blick aus übergroßer Höhe - Ein Theoretikerüberholt sich selbst - und veröffentlicht zwei neue Traktate
Der französische Apokalyptiker Paul Virilio ist vor allem als Prophet der Beschleunigung eine intellektuelle Berühmtheit. Aber es kam alles noch viel schneller, als er selbst vermutete, und so hinkt der Theoretiker inzwischen seinen eigenen Vorhersagen kräftig hinterher.
Der französische Apokalyptiker Paul Virilio ist vor allem als Prophet der Beschleunigung eine intellektuelle Berühmtheit. Aber es kam alles noch viel schneller, als er selbst vermutete, und so hinkt der Theoretiker inzwischen seinen eigenen Vorhersagen kräftig hinterher.
Längst pfeifen die Werbespatzen von den Dächern der Internetportale, dass sich "die globale Welt immer schneller dreht". Weil aber selten klar ist, was damit eigentlich gemeint sein soll, kann ein Blick zurück nach vorn auf Paul Virilio helfen, zwischen handfester Zeitdiagnose und dem, was nur so dahergeredet wird, klar zu unterscheiden.
Die Ausgabe des neuesten Doppeltraktates (darin enthalten sind "Information und Apokalypse" sowie "Die Strategie der Täuschung") trägt auf dem Cover einen Atompilz, der mit den Nullen und Einsen der Computersprache überrastert ist. Rührend einfallslos bringt der Buchdeckel so das Gleichnis von der "Informationsbombe" ins Bild, mit dem Virilio hier hantiert. Dabei muss man wissen: Das Gleichnis stammt eigentlich von Albert Einstein, der es unter dem Schock der Atombombe in den 50er Jahren formulierte.
Hart aber soft
Auch das zungezeigende Genie hatte freilich nicht immer Recht. Indem Virilio eine Metapher aus der Zeit des Kalten Krieges und also vor der elektronischen Massenkommunikation übernimmt, um die informationelle Neukolonisierung der Welt nach dem Ende eben jenes Kalten Krieges zu veranschaulichen, bleibt er analytisch hinter der Entwicklung zurück. Auf der Ebene der anklagenden Beschreibung jedoch gibt Virilio wie immer eine ganze Reihe höchst an- und aufregender Hinweise.
Dazu gehört beispielsweise die Beobachtung, dass im Fernsehen der unerhörten Schamlosigkeit der Bilder eine merkwürdig zahme Sprache entspricht. Man stelle sich vor, Ulrich Wickert oder Petra Gerster würden das, was ihreBildredakteure ihnen über die Schirme schicken, auf adäquate Weise auch zur Sprache bringen: Blut, Gewalt, verstümmelte Körper - genau genommen müssten sie reden wie Marquis de Sade, um dem, was gezeigt wird, ent-sprechen zu können.
Von Virilio ausgedrückt, klingt das dann so: "Während der schnellen Folge von Bildern voller Gewalt, Blut, Sex und sexueller Perversionen sind die Nachrichtensprecher oder Kommentatoren dazu angehalten, sich gleichzeitig einer gesäuberten Sprache zu bedienen (...), so dass sie dauernd von einer SOFT-Sprache und den HARD-Bildern in die Zange genommen werden."
Das trifft auch und vor allem in Zeiten des Krieges zu, wie Virilio in "Die Strategie der Täuschung" am Beispiel des Kosovo-Krieges deutlich macht. Während der Golfkrieg der erste elektronische Krieg gewesen ist, dominierte eine knappe Dekade später im Kosovo-Krieg der "information warfare". Die kriegsentscheidende Rolle der Lufthoheit (vom Zweiten Weltkrieg bis zum Golfkrieg), die an die Stelle des früheren Kampfes um die Seehoheit (Erster Weltkrieg) getreten ist, wurde ins Weltall ausgeweitet.
Wer den überglobalen Raum kontrolliert, ist militärisch Herr jener Welt, die von Informationssatelliten umkreist wird. Während diese Satelliten militärtechnisch für Präzision sorgten, was nicht ohne "Kollateralschäden" abging, organisierten sie meinungstechnisch eine neue Art der Zensur mittels Überinformation: "Es wird desinformiert, indem man den Fernsehzuschauer mit Informationen und augenscheinlich widersprüchlichen Fakten überschwemmt." Der "information warfare" sei nicht "mehr nur die Steuerung von Raketen mit Hilfe des electronic warfare, sondern die Fernsteuerung der Konfusion; jenes Chaos der Meinungen, das das Chaos der Zerstörungen vor Ort vervollständigt und vollendet."
Blinzelnder Seher
Ironischerweise hat allerdings Virilios Kritik etwas Wesentliches mit dem von ihm Kritisierten gemeinsam: Den Blick aus sehr großer Höhe. Wie alle Apokalyptiker neigt auch er zu einer Art Gottesblick auf den Menschen.
Dieser Blick hat den Vorteil, räumlich und zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse perspektivisch nah zusammenzurücken - das ist das Vorrecht der Seher und Propheten. Der Nachteil dieses visionären Denkens ist eine große Randunschärfe. Am Rande des Blicks aufs große Ganze werden die Einzelheiten diffus. Dabei sind eigentlich sie es, die in Paul Virilios Pamphleten für Spannung sorgen.
Bruno Preisendörfer
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