Roman "Unsichtbar": Paul Auster übt sich im literarischen Versteckspiel
Paul Auster ist ein Meister darin, die unvorhersehbaren Wirkungen von Kunst mit den ebenso unvorhersehbaren Lebensgeschichten seiner Romanhelden zu verquicken. So auch in seinem Roman "Unsichtbar".
Eine Schlüsselszene, wie sie typisch für den Helden eines Paul-Auster-Romans ist. Der 20-jährige Literaturstudent Adam Walker sieht einen Film und irgendeine vom Rest der Welt ignorierte Kleinigkeit bringt die Existenz ins Wanken – in „Unsichtbar“, dem neuen Auster-Roman, ist es eine Szene aus Carl Theodor Dreyers Klassiker „Das Wort“, die die Vergangenheit und die Zukunft von Walker überstrahlt: „Die Bäuerin, die bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist, liegt in einem offenen Sarg, neben ihr sitzt ihr Mann und weint. Der wahnsinnige Bruder, der sich für eine Reinkarnation Christi hält … gebietet ihr, hebe dich aus deinem Sarg und kehre in die Welt der Lebenden zurück … Die Frau öffnet die Augen, und Sekunden später richtet sie sich auf … und du klammerst dich an den Arm deiner Schwester und brichst in Tränen aus.“
In der Kunst, die unvorhersehbaren Wirkungen von Kunst mit den ebenso unvorhersehbaren Lebensgeschichten seiner Romanhelden zu verquicken, ist Paul Auster ein Meister. Seine Figuren selbst wiederum sind Revenants eines die Arsenale der Kunst- und Literaturgeschichte durchstreifenden Erzählers, sie sind geboren in der Begegnung mit der Schrift.
„Unsichtbar“ konfrontiert uns mit jenem finsteren Rudolf Born, Walkers Gegenspieler, dessen Name eine Reminiszenz an Bertrand de Born ist, den provenzalischen Troubadour des 12. Jahrhunderts. Der habe, werden wir aufgeklärt, mit Vorliebe Kriegslieder angestimmt und ist in Dantes Inferno dazu verdammt, seinen eigenen, ihm abgeschlagenen Kopf neben sich herzutragen, weil er seinen König zum Vatermord angestiftet hat.
Austers Rudolf Born, deutsch-französischer Schweizer mit französischem Pass, ist Professor für Politik und internationale Beziehungen, aber dies scheint nur der Deckmantel für dubiosere Tätigkeiten im Schatten des Kalten Kriegs zu sein: Doppelagententum, Folterungen, Mord. Letzteres wissen wir aus der nachgelassenen Lebensgeschichte Adam Walkers, alles andere bleibt Mutmaßung. Der Name Rudolf mit seiner sinistren Anfangssilbe macht uns die Figur auch nicht sympathischer, unwillkürlich erinnert dieser Kardinalzyniker an Nazi-Größen, und mit seinem Rassismus und Antisemitismus wirkt seine Ideologie wie aus den letzten Trieben des „Lebensborn“ gezüchtet. Was Auster nicht erwähnt, ist die Parallele von Borns Initialen mit denen von Roland Barthes: Just im Schicksalsjahr von Adam Walker, 1967, erschien Barthes’ Essay „Der Tod des Autors“, und zwar auf Englisch, im avantgardistischen „Aspen Magazine“. Ist hier der Text klüger als sein Autor oder handelt es sich um einen besonders trickreichen Schachzug des literarischen Versteckspielers Paul Auster? Dann wäre dies, mit einem Wort, austeresk.
Dass nicht alles so ist, wie es zunächst scheint und sich nichts so entwickelt, wie man es anfangs erwartet, gehört auch dazu. Schon hatten wir uns daran gewöhnt, in Adam Walker den Autor seiner Lebensbeichte zu erblicken, die in der Ermordung eines jungen Schwarzen gipfelt, die zu sühnen Walker den Rest seines Lebens zubringen soll, da kommt im zweiten Teil der erfolgsverwöhnte Autor James Freeman zu Wort, der sich als Herausgeber der Papiere seines inzwischen an Leukämie verstorbenen Collegefreunds Walker bezeichnet.
Freeman redigiert Walkers immer fragmentarischer werdende Notizen, tauscht die „wirklichen“ Namen gegen fiktive aus, trifft sich mit den noch lebenden Figuren aus Walkers Erzählung – seiner Schwester Gwyn, der Französin Cécile –, um den Rätseln, die sie ihm aufgibt, auf die Spur zu kommen. Doch stattdessen, wie üblich bei Auster, vermehren sich die Rätsel nur: Der Schluss hat nicht mehr Freeman zum Autor, sondern Cécile, die Balzacforscherin, der sich auf der Karibikinsel Quillia Unheimliches offenbart, das den Schlüssel des Ganzen enthalten könnte.
Nur gibt es die Karibikinsel Quillia auf keiner Landkarte, und wir wissen nicht, ob wir seit den Raffinessen eines W.G. Sebald einem Autor so leicht noch derartige fiktive Topografien abnehmen. Doch wir sind ihm bis hierhin gefolgt, seine Figuren spuken uns durch den Kopf – und zu gern hätten wir mehr über den Verbleib Margots, der anderen Französin in Adams Leben, mit ihren ausgeprägten sexuellen Vorlieben gewusst. Doch die Dinge offen zu lassen, gehört bei Paul Auster zum Konzept. Vielleicht steht die unsichtbar Gewordene ja im nächsten Roman unerwartet vor der Tür.
Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010.
316 Seiten, 19, 95 €.
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