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Anne-Sophie Mutter eröffnet das Musikfest Berlin: „Partituren muss man mögen wie Menschen“

Anne-Sophie Mutter eröffnet das diesjährige Musikfest Berlin. Im Interview spricht die Stargeigerin über ihren Kontakt zu Neuer Musik, Improvisation und Disziplin.

Frau Mutter, zur Eröffnung des Musikfest Berlin 2013 spielen Sie Witold Lutoslawskis „Chain II“, sein Violinkonzert, das Sie 1986 uraufgeführt haben. Dabei standen Sie zeitgenössischen Kompositionen damals eher reserviert gegenüber.
So kann man das höflich ausdrücken. Ich bin in meiner musikalischen Ausbildung bei Aida Stucki bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vorgerückt. Und durch meine sehr früh begonnene Konzerttätigkeit habe ich dann den Sprung ins Zeitgenössische nicht so recht geschafft. Ich selber empfand das nicht als Lücke – einer meiner Mentoren aber, der Schweizer Mäzen Paul Sacher, sah das anders. Darum überreichte er mir im August 1985 ohne große Vorankündigung die Geigenstimme zu „Chain II“. Ich war geschmeichelt und geschockt gleichermaßen, und habe dann den ganzen Herbst verzweifelt an dem Stück gearbeitet. Nicht über den Notentext habe ich das Stück letztlich für mich erschlossen, sondern über die Sinnlichkeit der Musik. Lutoslawski hat ein unglaublich subtiles Verständnis der Geige mit ihren schier unerschöpflichen Klangmöglichkeiten.

Erstaunlich, dass Sie sich im stillen Kämmerlein gequält haben. Warum sind Sie nicht auf den Komponisten zugegangen?
Auf die Idee wäre ich gar nie gekommen! Mir die Blöße zu geben, Lutoslawski Fragen zu stellen, die ich mir vielleicht auch selber beantworten kann.

Dann hilft nur Disziplin.
Ja, und die Fähigkeit mit Selbstzweifeln umgehen zu können. Denn es ist ja nicht so, dass man bei zeitgenössischen Partituren durch wiederholte Hieroglyphen-Entschlüsselung sicherer würde. Ich erinnere mich mit Schweißperlen auf der Stirn an meine allererste Begegnung mit Sofia Gubaidulina im Jahr 2007. Zwei Stunden vor der ersten Probe für die Uraufführung ihres Stückes „In tempus praesens“ mit den Berliner Philharmonikern spielte ich ihr das Werk vor. Ein besonderer Moment: Vor den Schöpfer zu treten und meine Sichtweise des Werkes vorzutragen.

Der Komponist hat für Sie offensichtlich etwas Mystisches. Orchestermusiker denken eher umgekehrt: Da will mich jemand zwingen etwas zu spielen, was ich für unspielbar halte.
(lacht) Den Eindruck kann man tatsächlich manchmal gewinnen. Ich dagegen habe wenigstens die Chance zu diskutieren. Aber im Ernst: Man muss einem Menschen doch Bewunderung entgegenbringen, der so viel inspirierter, kreativer und unvergänglicher ist als der Interpret.

Sie haben bislang 20 Werke aus der Taufe gehoben. Lassen sich die Komponisten, denen Sie vertrauen, unter einem Rubrum zusammenfassen?
Ja: Musiker. Das Qualitätsempfinden ist ja sehr subjektiv. Für mich muss zunächst das Handwerk stimmen. Höre ich da nur wahnsinnig viel übereinanderlappenden Lärm, oder gibt es eine Struktur, erscheint irgendwo so etwas wie ein Thema, wird eine musikalische Idee weitergeführt? Nur die Form kann mit Ausdruck erfüllt sein. Was mich definitiv nicht überzeugt, ist das Komponieren nach dem Zufallsprinzip: wie bei einer Zahnbürste, die ich in Farbe tauche und dann auf eine Leinwand schmeiße.

Es gibt Werke, die sind sehr klug konzipiert, geradezu mathematisch konstruiert, ohne dabei aber Sinnlichkeit zu entfalten.
Auch hier sehnt man sich nach „Ganzheit“. Daher rühren meine großen Probleme mit Schönbergs Violinkonzert. Schauen Sie sich dagegen das Konzert von Alban Berg an: Schon das Lesen der Partitur ist ein sinnliches Vergnügen! Das ist die perfekte Symbiose zwischen Ratio und Eros, die selten in der Musik erreicht wird. Aber nur unter dieser Bedingung möchten Musiker sich die Werke auch nach der Uraufführung immer wieder neu vornehmen. Der Komponist sollte sich im Klaren darüber sein, dass die Zuhörerschaft berührt werden will. Und danach handeln. Denn ohne Zuhörer ist jedes Stück nur eine tote Ansammlung schwarzer Punkte.

Haben Sie auch schon einmal ein bereits fertiges Auftragswerk abgelehnt?
Ja, es ist schon vorgekommen, dass ich mich nach intensiver Beschäftigung mit der Partitur entschieden habe, sie nicht aufzuführen. Das war mir furchtbar peinlich, hat mich viel Schlaf gekostet. Aber ich musste den ehrlichen Weg gehen. Mit Kompositionen ist es wie mit Menschen: Man muss sie mögen, wenn man sich näher mit ihnen beschäftigt, um dann unter die Haut zu schlüpfen.

Vielen fällt der Zugang zur Bildenden Kunst leichter als zur Neuen Musik …
… weil Sie im Museum einfach weitergehen können, wenn Ihnen etwas nicht gefällt. Durchschnittlich, so haben Untersuchungen ergeben, erhält jedes Bild nur 50 Sekunden Aufmerksamkeit. Das geht im Konzert natürlich nicht. Mit der Ausdauer allerdings hapert es heute oft. Es soll immer alles ganz schnell gehen.

Was Anne-Sophie Mutters an Lutoslawskis Musik fasziniert.

Dass man gezwungen ist, im Konzert ein Stück bis zum Ende anzuhören, kann auch eine Chance sein. Vielleicht ist man nach drei Minuten gefesselt von einer Musik, der man sich freiwillig nie ausgesetzt hätte?
Das „gezwungen“ klingt nun wirklich abschreckend! Aber Sie haben in gewisser Weise recht. Es kommt allerdings noch etwas hinzu: Zeitgenössische Musik lebt noch mehr als die Werke des Repertoires von den Interpreten. Neue Stücke stehen und fallen einfach mit der Leidenschaft dessen, der sie vorstellt. Mit dem unabdingbaren Willen des Interpreten, seine Begeisterung für das Stück aufs Publikum zu übertragen.

Sie waren mit einem Komponisten verheiratet, mit André Previn. Da waren Sie also mittendrin im Schaffensprozess …
Das war viel unspektakulärer, als man es sich denkt: Ich koche, er komponiert. Jeder geht dem nach, was er kann. Außerdem ist André keiner, der mit jeder neuen Partiturseite angerannt kommt, um sie mir zu zeigen. Was mich an ihm besonders fasziniert ist seine Vielseitigkeit. Er ist ja nicht nur Komponist, sondern auch Dirigent, Arrangeur, Pianist, Jazzmusiker – zum Glück hat er nie Geige gespielt!

Lassen Sie uns noch einmal auf Lutoslawski zurückkommen. Was fasziniert Sie an seiner Musik?
„Chain II“ eröffnet den Interpreten die Möglichkeit der Improvisation innerhalb einer festgeschriebenen Partitur. Diese Musiksprache des ad libitum finde ich absolut zeitgemäß: Eine ausgeschrieben notierte Musik, die aber in ihren zeitlichen Abläufen und in ihrer Wiederholbarkeit den Spielern Raum für Spontaneität lässt. Oft sind das nur ganz kurze Passagen der Selbstgestaltung. Und doch erhält die Musik dadurch eine emotionale Tiefe und auch Wildheit, die man in der klassischen Struktur nicht findet.

Im Barock dagegen gehörte das Improvisieren für Musiker ganz selbstverständlich dazu.
Über die Jahrhunderte ist diese Fähigkeit leider verloren gegangen. Lutoslawski hat das geschickt reaktiviert: Er zwingt uns mutig zu sein, indem er uns das „ad libitum“ vorschreibt. Im Jazz ist das ja auch so: Da gibt es ein Thema, über das gemeinschaftlich improvisiert wird. Dass sich die Musiker zuhören, dass sie tief miteinander verknüpft sind, würde ich mir bei klassischer wie zeitgenössischer Musik sehr viel stärker wünschen.

Sie sind so berühmt, dass die Leute ins Konzert kommen, egal, was Anne-Sophie Mutter spielt. Verpflichtet so ein Starstatus nicht auch dazu, sich gezielt für neue oder zu Unrecht vergessene Werke einzusetzen?
Es ist für einen Künstler wunderbar, wenn es ihm gelungen ist, sich ein Publikum zu erarbeiten, das ihm vertraut und ihm darum auf unbekanntes Terrain folgt. Hat man die erreicht, wäre es in der Tat sündhaft, die Chance zur Erweiterung des Repertoires nicht zu nutzen – für sich wie für das Publikum.

Das Gespräch führte Frederik Hanssen. Mehr über das Musikfest Berlin lesen Sie in unserem Klassikportal: www.tagesspiegel.de/musikfest-berlin

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