Staat und Whistleblower: Paranoia ist nicht unbedingt persönlich
Whistleblower wie Julian Assange und Edward Snowden gelten, je nach Perspektive, als Helden oder Verbrecher. Aber wird man ihrem Tun gerecht, indem man ihre individuellen Motive untersucht?
Die NSA hat viele Funktionäre, aber kein wirkliches Gesicht. Erst die Whistleblower und Leaker der letzten Jahre haben ihr eines gegeben und überfordern doch auch mit ihren Enthüllungen den gemeinen Verstand. Zwischen der Abstraktheit des maschinellen Datensammelwahns und dem Wunsch, ihn erzählbar zu machen, herrscht eine fatale Asymmetrie. Was komplexe politisch-philosophische Abwägungen erfordert, mutiert schnell zu einem Kriminalstück, dessen Protagonisten je nach Perspektive Helden oder Verbrecher sind. Das Nichtmehrmenschliche sucht sich einen Ausweg im Allzumenschlichen.
Das reflektieren auch die jüngsten Titelgeschichten der „New Republic“ und der „New York Review of Books“ – allerdings auf entgegengesetzte Weise. Während der Princeton-Historiker Sean Wilentz personalisierend fragt, „Würden Sie Snowden, Greenwald und Assange anders betrachten, wenn Sie wüssten, was sie wirklich denken?“, sucht David Cole, Verfassungsrechtler an der Georgetown University in Washington, D.C., nach historischen Lehren, die nicht beim Urteil über die Berechtigung persönlicher Motive haltmachen.
Wilentz ist nicht der Erste, der Julian Assanges eklektischem Denken auf den Grund zu gehen versucht. So, wie es in dem Pamphlet „Conspiracy as Governance“ (Verschwörung als Regierungshandeln) dokumentiert ist, umarmt es gleichermaßen die anarchistische Linke und die staatsfeindliche Rechte und gewinnt daraus einen Impuls von „paranoidem Libertarianismus“ (Richard Hofstadter). Noch keiner hat allerdings so brillant wie Wilentz nachgezeichnet, welch finstere Gesellen Assange auf einem Kreuzzug aufgegabelt hat, in dem das ohnmächtige Individuum fast allmächtigen Institutionen gegenübersteht. Die Annahme, man könne alle politischen Lager hinter sich lassen, hat Assange unempfindlich gemacht für fragwürdige Allianzen. Im Kreml fand er früh Unterstützer; in Australien paktierte seine WikiLeaks-Partei mit der extremen Rechten.
Einen ähnlichen Mangel an Klugheit wirft Wilentz Edward Snowden vor. Die russische Propagandamaschine, mahnt er mit einem Wort von Masha Gessen, sei mithilfe eines US-Bürgers, über dem Putins schützende Hand schwebt, so sehr auf Touren gekommen wie seit der Mordanklage gegen die schwarze Aktivistin Angela Davis Anfang der Siebziger nicht mehr. Auch Glenn Greenwald, der Snowdens „Prism“-Dokumente für den „Guardian“ aufbereitete, wird durchleuchtet: Wie konnte er nur jahrelang für den reaktionären Ron Paul trommeln, der als libertäres Schlachtross mehrfach in den Präsidentschaftswahlkampf zog? Dubiose Gefährten, wohin das Auge blickt.
Die Beweislage ist erdrückend – und bedrückend. Nur wird man der Situation mit der Klage über opportunistisches Verhalten gerecht? Das Leben mit falschen Freunden ist immer noch besser als die Aussicht, in Hochsicherheitsknästen psychisch und physisch zerstört zu werden, wie es Bradley „Chelsea“ Manning fürchten musste, bevor er verurteilt wurde. Nun sitzt er, mit dem Wunsch, künftig ein Leben als Frau zu führen, für die nächsten 35 Jahre in einem Militärgefängnis in Kansas.
David Cole sieht sehr wohl, dass immer nur der Einzelne haftbar gemacht werden kann. Doch er betrachtet ihn zugleich als Teil eines systemischen Gefüges, wie es Rahul Sagar in „Secrets and Leaks: The Dilemma of State Secrecy“ (Princeton University Press) untersucht. Der Staat muss zwangsläufig Geheimnisse haben. Ebenso unvermeidlich sind aber Enthüllungen – als Test auf missbräuchliche Geheimhaltung. „Während wir als Teil der Öffentlichkeit“, so Cole, „von jedem Einzelnen dieser Männer erfahren haben, was unsere Regierung hinter verschlossenen Türen in unserem Namen getan hat, haben sie es auch auf sich genommen, Hunderttausende geheimer Dokumente offenzulegen, von denen vermutlich nur einige zu Recht enthüllt wurden. Niemand hat Snowden, Manning oder Assange auserkoren, als unser Gewissen aufzutreten. Aber wenn sie es nicht getan hätten, wer sonst?“ Sie haben den Preis dafür gezahlt. Denn der Staat nimmt sich die Freiheit, übers Ziel hinausschießen – den Whistleblowern schenkt er sie nicht.