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Leonardo Boff.
© epd

Interview mit Befreiungstheologen Leonardo Boff: "Papst Franziskus denkt politisch"

Papst Franziskus reist am Montag zum Weltjugendtag der Katholiken nach Rio de Janeiro. Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff spricht im Interview über die Hoffnungen, die sich mit dem neuen Papst verbinden - dem ersten aus Lateinamerika.

Herr Boff, werden Sie am Weltjugendtag der katholischen Kirche teilnehmen, der am heutigen Montag in Rio beginnt?

Ich kann wegen gesundheitlicher Probleme nicht dabei sein, aber der neue Papst hat ausdrücklich darum gebeten, ein Buch von mir zu erhalten. Es ist gerade erschienen und heißt: „Franziskus von Assisi und Franziskus von Rom: ein neuer Kirchenfrühling?“

Sie setzen große Hoffnungen in Franziskus. Was würden Sie ihm gerne sagen?

Ich würde ihn darum bitten, weiterhin die Armen in den Mittelpunkt seines Pontifikats zu stellen – und zwischen diese Armen den Planeten Erde, der auf unvorstellbare Weise ausgebeutet wird. Ich würde dem Papst wünschen, dass er sich weiterhin vom Heiligen Franziskus leiten lässt. Der Name steht für eine andere, eine einfache und arme Kirche, offen für alle und eine Fürsprecherin der Natur.

Wie bewerten Sie Franziskus’ Wirken?

Der Papst hatte noch nicht genug Zeit, um all seine Ideen zu verwirklichen. Aber er hat bereits jetzt entscheidende Impulse gesetzt. So hat er seine Arbeit nicht mit der Reform der römischen Kurie begonnen, sondern mit der Erneuerung des Pontifikats. Er will beweisen, dass der Papst selbst mit gutem Beispiel vorangehen muss. Er ist bescheiden, direkt, nah bei den Menschen und frei von den Symbolen der Macht. Seine größte Herausforderung ist es, die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche nach all den Skandalen wiederherzustellen.

Andererseits: Fürchten Sie nicht, dass der Weltjugendtag wieder ein Spektakel rund um den Popstar Papst wird?

Dieser Papst ist politischer als seine Vorgänger. Er tritt nicht als ekklesiastische Autorität auf, sondern als Hirte. In Rio wird er entscheidende Zeichen setzen, etwa eine Favela besuchen. Er hat es auch abgelehnt, in einer Suite unterzukommen und wählte stattdessen ein einfaches Zimmer. In Rom lebt er in einem kleinen Apartment, fährt Bahn und Bus. Das ist kein Populismus, sondern tief empfundene Liebe zu den Armen und ein neues Verständnis von der Rolle des Papstes. Ich glaube, dass Franziskus den Kräften in Lateinamerika Rückenwind verleihen wird, die für die soziale Gerechtigkeit kämpfen.

Sie fordern eine Kirche, die sich stärker in die Politik einmischt. Ist das die Aufgabe der Kirche?

Es gibt keinen anderen Kontinent, auf dem der Wohlstand so ungerecht vergeben ist wie in Lateinamerika. In Brasilien leben fast 200 Millionen Menschen, aber nur 5000 Familien besitzen 43 Prozent des Reichtums. Diese Ungleichverteilung schwächt die Demokratie, welche ein Mindestmaß an Gleichheit und Transparenz benötigt. Lateinamerikas Gläubige erwarten, dass die katholische Kirche in dieser Situation ihre prophetische Rolle wiederfindet. Sie muss sich auf die Seite der Armen, der Indianer, der Schwarzen, der Kinder, der Frauen und der Landlosen stellen. Unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wurde diese Aufgabe vernachlässigt, und Kirchenmänner, die sich ihr widmeten, wurden bekämpft. Beide Päpste beriefen konservative Bischöfe, die dem Dialog mit der Gesellschaft aus dem Weg gingen. Die Gläubigen Lateinamerikas erwarten, dass die Kirche sich wieder öffnet und zurück zu der Großzügigkeit und Gerechtigkeit von Jesus findet.

Wie erklären Sie das rasante Anwachsen der evangelikalen Kirchen in Brasilien und Lateinamerika?

Diese Kirchen entstehen durch die institutionelle Leere der katholischen Kirche. Rund 65 Prozent der Brasilianer bekennen sich zum Katholizismus. Um sie zu betreuen, bräuchte man 100 000 Priester. Es gibt aber nur 19 000, von denen 7000 Ausländer sind. Zwar sind auch viele katholische Basisgemeinden entstanden, sie reichen aber nicht aus. Die katholische Kirche erlebt einen institutionellen Zusammenbruch, insbesondere an den Peripherien – dort wo die Masse der armen und einfachen Menschen lebt. Die Brasilianer sind sehr religiös, und wenn eine christliche Kirche zu ihnen kommt, dann schließen sie sich ihr an. Die Menschen orientieren sich weniger nach Doktrinen, sondern sehnen sich nach Aufnahme und Gemeinschaft. Ich sehe die Vielfalt der Kirchen deswegen nicht negativ. Sie repräsentiert den spirituellen Reichtum Brasiliens. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, die Schönheit von Jesus' Lehre und Praxis in ihrer Ganzheit darzustellen.

Was bedeutet es, dass der Papst ein Lateinamerikaner ist?

Er stammt nicht aus der alten, europäischen Christenheit, sondern aus dem großen Süden. In Europa leben nur 24 Prozent aller Katholiken, in Lateinamerika aber 62 Prozent. Unsere Kirchen sind nicht länger nur Spiegel der europäischen Kirchen – sie sind selbst Quellen des Glaubens, mit eigener Tradition, Theologie und Seelsorge. Hier haben sich Bischöfe dazu entschieden, soziale Gerechtigkeit zu predigen und die Menschenrechte aus Sicht der Armen zu interpretieren. Das bedeutet eine Hierarchiesierung: Zuerst kommt das Recht auf ein Leben in Gesundheit, ein Leben mit Bildung und Arbeit. Dann erst kommen alle weiteren Rechte. Franziskus steht in dieser Tradition.

Was können die Gläubigen in Europa von den Lateinamerikanern lernen?

Ich glaube, dass die Europäer den gemeinschaftsstiftenden Sinn des Glaubens verloren haben. Ebenso die Fähigkeit, religiöse Symbole mit Leben zu erfüllen. Der Synkretismus zwischen Religion und Volkskultur fehlt völlig. Dadurch ist der Glaube erstarrt. In Lateinamerika ist er dagegen fröhlicher, festlicher. Er imprägniert die Menschen geradezu gegen ihren beschwerlichen Alltag. Besonders die Brasilianer sind ein tief religiöses, ich würde fast sagen: mystisches Volk. Sie spüren Gott in ihrem täglichen Leben. Der Europäer ist da rationaler.

Haben Sie ein Signal der Versöhnung von Joseph Ratzinger erhalten, nachdem er als Papst zurückgetreten ist?

Nein, und ich erwarte das auch nicht. Als ich vorgeladen und mit Lehrverbot belegt wurde, tat Ratzinger, was er für richtig hielt. Und ich habe an meiner Theologie der Befreiung festgehalten, weil ich es für unverantwortlich hielt, dass die Kirche sich in Lateinamerika nicht zu Ungerechtigkeit und Unterdrückung äußern sollte. Ich habe Ratzinger nichts mehr zu sagen, respektiere aber seine mutige Entscheidung zum Rücktritt vom Papstamt. Er war sich seiner physischen, psychischen und spirituellen Grenzen bewusst. Ich hoffe, dass er voller Vertrauen zu seinem Treffen mit Gott geht.

LEONARDO BOFF, 74, ist einer der Gründer der Befreiungstheologie. Sie entstand mit dem Beginn der sechziger Jahre in Lateinamerika, stellte die Armen in den Mittelpunkt ihrer Lehre und nahm dabei auch Anleihen beim Marxismus.

Als Sohn italienischer Einwanderer trat Boff mit 21 Jahren dem Franziskanerorden bei. Er studierte Philosophie und Theologie und setzte nach der Priesterweihe von 1965 bis 1970 seine Studien bei Karl Rahner in München fort. Nach mehreren Schriften über kirchliche Missstände erteilte der Vatikan Boff 1985 Rede- und Lehrverbot. Dennoch erneuerte er seine Kritik und wurde deshalb von Kardinal Ratzinger 1991 mit

einer Disziplinarstrafe belegt.

Boff trat aus dem Franziskanerorden aus. Heute lebt er in einem Bergwald bei Petrópolis mit der Menschenrechtlerin Marcia Maria Monteiro und ihren sechs Kindern aus erster Ehe zusammen.

Das Gespräch mit ihm führte Philipp Lichterbeck.

Philipp Lichterbeck

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