"Child´s Pose": Oberschicht bleibt Oberschicht
Hauptberuf Mutter: Das kraftvolle, rumänische Drama „Child’s Pose“ dreht sich um eine begüterte Rumänin, die ihren Sohn vor den Konsequenzen seines Handelns beschützen will.
Wird dies die Berlinale der 60-Jährigen, genauer: der 60-jährigen Frauen? Einer Lebensform also, von der bislang nicht mit Sicherheit anzugeben war, ob das Wort „Leben“ überhaupt als angemessene Kategorie ihrer Beschreibung gelten darf. Handelt es sich nicht eher um eine schwer zugängliche Verwitterungsform?
Der chilenische Wettbewerbsfilm „Gloria“ erbrachte den Nachweis, dass mit 60 zwar nicht alles erst anfängt, aber mitunter doch eine Berlinale. Drei Tage nach ihrem eigentlichen Beginn. „Vic+Flo“ setzte die Beweisführung übergangslos fort, und nun also „Pozitia Copilului“ („Child’s Pose“), der rumänische Beitrag von Calin Peter Netzer. Die dritte 60-Jährige von Rang in einem Film von Rang.
Und jedes Mal sind die Regisseure Männer, noch recht junge. Dass die die richtige Netzhautempfindlichkeit haben, eine 60-Jährige mit bloßem Auge überhaupt wahrzunehmen, überrascht nun doch. Wie lässt sich dieses cineastisch ebenso wie kulturhistorisch und soziologisch interessante Phänomen erklären? Calin Peter Netzer, in Rumänien geboren, später in Deutschland aufgewachsen, ist Jahrgang 1975.
Mach’ Filme über das, was du kennst, lautet eine Kinobranchenempfehlung. Man kann sie natürlich genauso gut ignorieren, aber nicht nur Calin Peter Netzer schien das offenbar leichtsinnig. Wenn diese Regisseure etwas auf Erden wirklich schon in- und auswendig kennen, dann doch wohl ihre Mütter!
Diese heißt Cornelia (Luminita Gheorghiu). Hauptberuf: Mutter. Schon nach der ersten Einstellung ist klar, dass es im Zweifelsfall keine größere Bürde gibt, für alle Beteiligten einschließlich ihrer selbst. Und keine vorurteilsgeladenere Kommunikationsform als das Gespräch einer Mutter mit deren besten Freundin über ihren Sohn. Und über dessen Freundin. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich um die Bukarester Oberschicht handelt.
Der Oberschicht anzugehören, beinhaltet nicht nur in Rumänien ein erhöhtes Risiko, unmöglich gekleidet zu sein. Wir wagen die Vermutung, dass diese Cornelia die unsympathischste 60-Jährige des bisherigen Festivals ist. Dafür spricht auch, dass ihr Sohn Barbu, 34 Jahre alt (passivstmöglich: Bogdan Dumitrache) die Bücher Herta Müllers nicht liest. Nicht, weil Herta Müller sie geschrieben hat, sondern weil seine Mutter sie ihm geschenkt hat.
Bei Frauen, an denen sich alles zurückbildet, werden seltsamerweise die Ringe und Ketten immer größer. Und wie diese Cornelia tanzt, auf der eigenen Geburtstagsparty, mit welcher traurigen, deplatzierten, verkanteten Vorsätzlichkeit. Gloria aus „Gloria“ konnte das wohl besser. Aber es liegt nicht an solchen Äußerlichkeiten allein, dass man beginnt, zunehmend flacher zu atmen.
Eine Mutter, die ihren längst erwachsenen Sohn nicht freigeben kann. „Pozitia Copilului“ behauptet sein Thema nicht nur, sondern entwickelt, flankiert es in einer Weise, die in größtmöglichem Kontrast zu Cornelias Konfektionsvorlieben steht. Dazu gehört zuerst, dass es um dieses Thema nur insofern geht, als es eigentlich um etwas anderes geht: Cornelias Sohn hat bei dem Versuch, ein Auto zu überholen, ein Kind überfahren. Es ist tot. Sozialkritisch formuliert: Oberschicht überfährt Unterschicht, nun auch noch im wirklichen Leben. Aber in welch feine Fäden Netzer das auflöst!
Die erste Reaktion der Mutter: Kein Erschrecken, kein Innehalten, nur Sorge um den Sohn. Polizei, der Zeuge und andere müssen von den Grenzen ihrer jeweiligen Kompetenzen in Kenntnis gesetzt werden. Und so, wie Andrei Buticas ebenso diskrete wie unmittelbare Kamera das zeigt, wie Luminita Gheorghiu das spielt, kommt die Frage Kann-das- sein? gar nicht erst auf.
Mutter: Das ist der Name für das größtmögliche denkbare Humanum, für das Bergende schlechthin, meinen wir gewöhnlich. Und doch auch für das Beschränkteste, das tendenziell Inhumane. Nesttrieb, Nestlogik. Ein feines Gewebe entsteht, in dem sich innen und außen immer mehr verschränken.
Es kann nicht falsch sein, zu der Familie des toten Kindes zu fahren. Es kann auch nicht falsch sein, das Begräbnis zu bezahlen. Was seine Mutter will, kann der Sohn schon deshalb nicht tun. Richtig und falsch wechseln fortwährend die Seiten, und schließlich: Was für ein Showdown! Er findet statt auf dem unsichtbaren Hauptschauplatz jedes guten Films: im Dazwischen. Zwischen den Personen.
Einmal mehr zeigt das rumänische Kino, das es vielleicht erst seit einem Jahrzehnt wirklich gibt, welche Kraft in ihm ist.
12.2., 9.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 9.30 Uhr (HdBF); 12.2., 22.30 Uhr (International)
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